Johann Wolfgang Goethe: „Iphigenie auf Tauris“ (Fassung 1787)
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Goethes 1787 fertiggestellte dramatische Bearbeitung des antiken Stoffes um die älteste Tochter des trojanischen Helden Agamemnon und dessen Frau Klytaimnestra gilt noch heute oftmals als Paradebeispiel seines Weimarer Kulturprogramms, das Humanität als zentrales gesellschaftliches Ideal propagierte. Dieser Haltung folgend wird im Stück das durch das Schicksal getrennte Geschwisterpaar Iphigenie und Orest wieder zusammengeführt, eine kriegerische Auseinandersetzung zwischen Griechen und Taurern verhindert und nicht zuletzt sogar der Familienfluch des Tantalidengeschlechts, dem Iphigenie und Orest in jüngster Generation angehören, gebrochen.
Damit wird gleichsam eine heroische Tradition überwunden, wie sie bereits vor Goethe, etwa in Johann Elias Schlegels Drama „Die Trojanerinnen“ (1737), kritisiert wurde (vgl. Brandmeyer 1987, S. 31). Goethes Stück ließe sich in einem aufklärerischen Sinne so interpretieren, dass ein männlicher Mythos von Herrschaft, Gewalt und Heroismus über die Figur der Iphigenie durch eine Art reine, humane und erlösende Kraft des Weiblichen abgelöst wird. Dieses das Stück durchziehende Humanitätsideal, wie es etwa auch in Johann Gottfried Herders „Briefen zur Beförderung der Humanität“ (1793-1797) als fortlaufender Entwicklungsprozess angestrebt wird, ist auf inhaltlicher Ebene symptomatisch für die Klassizität von Goethes Drama, die sich noch in weiteren Aspekten zeigt. Rückgriffe auf die antike Dichtkunst bestehen inhaltlich darüber hinaus etwa in der Anagnorisis (also dem gegenseitigen Wiedererkennen) des Geschwisterpaares, Orests Gang in die Unterwelt sowie konzeptionell in der Figurenzeichnung von Iphigenie als ‚schöne Seele‘ (im Griechischen ‚Kalokagathia‘). Über derartig konzipierte Figuren wird eine Harmonie zwischen Pflicht und Neigung in vollkommener Weise symbolisiert, wie es etwa in Schillers philosophischer Schrift „Über Anmut und Würde“ (1793) dargelegt wird. Auch die formale Ebene des Dramas bildet seine Klassizität ab. Goethe verleiht sie der ursprünglichen Prosafassung von 1779 erst durch eine grundlegende Überarbeitung während seines Italienaufenthalts (1786-1788): Fünfhebige Jamben als Blankverse, der hohe Sprachstil, die geschlossene Form des Stücks, die symmetrisch aufgebaute Personenkonstellation, die höfisch-aristokratische Sphäre sowie zahlreiche sprachlich-rhetorische Kunstfertigkeiten spiegeln die inhaltlichen Harmonisierungsbestrebungen auch formal wider.
Goethes „Iphigenie“, von ihm selbst in einem Brief an Schiller als „ganz verteufelt human“ (19. Januar 1802) bezeichnet, kann zeitgenössisch – insbesondere in der früheren Prosafassung, die zahlreiche Anspielungen auf den Weimarer Hof enthielt – eher als Liebhaberstück im Schillerschen Sinne einer ästhetischen Erziehung des Menschen („Über die ästhetische Erziehung des Menschen“, 1795) verstanden werden: Vor diesem Kontext hat Kunst die Funktion, die Menschen zu veredeln. Die größtenteils dialogische und anspruchsvolle Konzeption hat zur ausbleibenden zeitgenössischen Breitenwirkung sicherlich ebenso beigetragen wie die dem Stück oftmals vorgeworfene fehlende Leidenschaftslosigkeit, die Schiller jedoch in einer Besprechung als „die imponierende große Ruhe, die jede Antike so unerreichbar macht, die Würde, den schönen Ernst“ (Schiller 1991, S. 212) bezeichnete.
Im 20. Jahrhundert machte hingegen Theodor W. Adorno das Stück für eine Zivilisationskritik fruchtbar: Die „Iphigenie“ sei, wie das gesamte Werk Goethes, von einer „Gewalt des Mythischen“ durchzogen, die „blinde, naturwüchsige Verhältnisse“ (er bezieht sich hier konkret auf den Monolog des wahnsinnigen Orest) zum Ausdruck bringt, wie sie „auch in der Gesellschaft des aufgeklärten Zeitalters“ (Adorno 1974, S. 7f.), also der zeitgenössischen bürgerlichen Gesellschaft, noch überdauerten.
Textgrundlage:
Johann Wolfgang Goethe: Iphigenie auf Tauris. Studienausgabe, hg. v. Rüdiger Nutt-Koforth, Stuttgart: Reclam 2014.
Hören Sie sich die kurze Einführung des Dramaturgs Oliver Held an, der Ihnen einen guten Überblick zur komplexen Vorgeschichte und Handlung des Stücks gibt und zentrale Themen, die Sie im Laufe der Einheit tiefer gehender bearbeiten werden, bereits aufgreift.
Wünsche / Sehnsüchte
Legen Sie lektürebegleitend für sich eine Tabelle an, in der Sie Wünsche und Sehnsüchte, die sich bei Iphigenie, Orest und Thoas im Laufe der Handlung zeigen, notieren. Halten Sie darin auch fest, welche der Figuren am Ende des Dramas inwiefern ihre Wünsche und Sehnsüchte erfüllen kann. Was sind Gründe des Scheiterns?
Hören Sie sich auch gerne erneut die Podcasts unter 2.6. „Gesten der Affekte“ an.
Eine Vorlage für die Tabelle finden Sie in dieser Datei.
Im weiteren Verlauf der Erschließung des Textes werden Sie immer wieder an das Ausfüllen der Tabelle erinnert. Achten Sie auf folgendes Icon:
Handlungsverlauf
In ihrem ersten Monolog (V. 1-53) offenbart Iphigenie ihre Sehnsüchte.
- Worin bestehen diese?
- Auf welches Angebot Thoas‘ bereitet Arkas Iphigenie im zweiten Aufzug des ersten Auftritts vor?
Wie verhält sich Iphigenie im nachfolgenden Aufzug gegenüber Thoas bezüglich dieses Angebotes? Welche Konsequenzen folgen daraus?
Im ersten Aufzug des zweiten Auftritts treten Orest und Pylades erstmals auf.
Was ist ihr Anliegen?
In den nachfolgenden Gesprächen mit Pylades und Orest erfährt Iphigenie vom Los ihrer Familie. Schließlich erkennt sich das Geschwisterpaar gegenseitig wieder (Anagnorisis).
- Welchen Wunsch hegt Orest für seine Schwester?
- Wie sieht er sein eigenes Schicksal?
- Welchen Plan fassen Iphigenie, Orest und Pylades im dritten Auftritt des dritten Aufzugs?
- Wie verschafft Iphigenie Orest und Pylades mehr Zeit zur Vorbereitung und Durchführung des Plans?
- Wie verhält sich Iphigenie im dritten Auftritt des fünften Aufzugs gegenüber Thoas bezüglich des gefassten Plans? Wie einigen sich die beiden?
Nachfolgend kommt es beinahe zu einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Griechen und Barbaren.
- Wie kann diese verhindert werden?
- Wie endet das Stück?
Autonomie Iphigenies
- Inwiefern und zu welchen Zeitpunkten des Stücks kann man von Iphigenie als einer autonomen Figur sprechen?
- Rekonstruieren Sie mündlich ihre Abhängigkeiten bzgl. der Bereiche Familie/Privatleben, Politik/gesellschaftliche Rolle und Geschlechtsrolle/Sexualität.
Das Atridengeschlecht ist nicht allein durch heldenhafte Taten bekannt, sondern wird immer wieder von tragischen Ereignissen, die durch den Familienfluch vorherbestimmt sind, überschattet.
Tantalidenfluch
Rekonstruieren Sie den Fluch anhand dieses interaktiven Inhalts.
Das Geschwisterpaar und der Familienfluch
Achten Sie bei der Lektüre des Textes darauf, wie (insbesondere bzgl. ihrer Affekte) und in welchen Zusammenhängen einerseits Iphigenie und andererseits Orest über den Fluch ihrer Familie sprechen.
Erinnern Sie sich auch an die Inhalte im Reiter 2.7. „Sprache der Affekte“ zurück.
Parzenlied
Brechen des Fluchs
Der Familienfluch scheint am Ende des Dramas mit der Heilung Orests durchbrochen zu sein.
Rekonstruieren Sie diesen Heilungsprozess und die Faktoren, die zum Gelingen beitragen. Beschäftigen Sie sich jeweils mit den Rollen Orests, Iphigenies und der Götter und tragen Sie Ihre Ergebnisse mündlich zusammen.
Hera/Juno Ludovisi“, Büste
(CC0)
Geschlechtlich codierter Affekthaushalt der Figuren?
Heinrich Laube erkannte im 19. Jahrhundert in Iphigenie den „Hauch edler, geistiger Weiblichkeit“ (Laube 1909, S. 155). Denken Sie an die Ausführungen zur „schönen Seele“ aus der interaktiven Präsentation im Bereich „Vor der Lektüre“ zurück und lesen Sie einen Auszug (S. 363-375) aus dem Forschungstext „Die Polarisierung der Geschlechtscharaktere“ (1976) von Karin Hausen, in dem es um die Ausbildung von Geschlechtscharakteren im 19. Jahrhundert geht.
- Stellen Sie anhand geeigneter Textstellen heraus, was für eine Lesart im Sinne Laubes spräche. Achten Sie dabei unbedingt auf die jeweiligen Sprecher:innenpositionen.
- Reflektieren Sie dann die Aussage Laubes kritisch: Was ließe sich einer solchen Zuschreibung, die Weiblichkeit transzendiert, entgegensetzen?
Verfassen Sie einen Text im Umfang von ca. 500 Wörtern.
Leidenschaftslosigkeit?
Diskutieren Sie die einzelnen Zitate in der Gruppe. Nehmen Sie zu den jeweiligen Aussagen Stellung.
Katharsis?
Erinnern Sie sich, welche Rolle Leidenschaften bzw. Affekte für die kathartische Wirkung der aristotelischen Tragödie haben. Sie können dazu noch einmal in das Kapitel 2.4. („Aristoteles und die griechische Tragödie“) schauen.
- Worin sehen Sie die Konsequenz einer solchen „Leidenschaftslosigkeit“ für die Katharsis des Stücks?
Ideendrama?
Um 1800 tritt vermehrt eine konzeptionell anders gelagerte dramatische Gattung heraus, das sogenannte ‚Ideendrama‘. Bernhardt Asmuth schreibt in seiner „Einführung in die Dramenanalyse“ dazu:
„Am ehesten halten die Interpreten, der Tradition des didaktischen Dramas und der Sententia-Theorie verpflichtet, nach einer Lehre, einer Aussage, einem Gehalt, einer Idee Ausschau. Das sogenannte Ideendrama in der Art und im Gefolge Schillers und unter dem Einfluß der idealistischen deutschen Philosophie hat diese Ausrichtung verstärkt und zugleich verengt. ‚Nur wo ein Problem vorliegt, hat eure Kunst etwas zu schaffen‘ […]. Das Drama soll […] das ‚Geistige verleiblichen‘. Die Kunst, speziell die dramatische, ist […] ‚die realisierte Philosophie, wie die Welt die realisierte Idee‘ […].“
(Zitate aus Friedrich Hebbels Vorwort zu seinem Drama „Maria Magdalena“ von 1843; zit. nach: Asmuth 2016, S. 178)
Diskutieren Sie mit Blick auf Ihre im Laufe der Einheit erstellte Tabelle folgende Fragen:
- Lassen sich anhand der Wünsche und Sehnsüchte der Figuren bestimmte Ideen ableiten, denen sie anhängen?
- Wie konsequent orientieren sie sich im Laufe des Stücks an diesen Ideen?
- Und schließlich: Wie ist die tragische Lösung des Konflikts vor dem Hintergrund dieses ‚Spiels der Ideen‘ zu verstehen?
Goethes berühmtes Drama wurde in der Forschung vielfach diskutiert und interpretiert. Im folgenden Podcast bespricht Walter Erhart, Professor für Literaturwissenschaft an der Universität Bielefeld, seinen Aufsatz „Drama der Anerkennung. Neue gesellschaftstheoretische Überlegungen zu Goethes ‚Iphigenie auf Tauris‘“ (Erhart 2007) mit dem Literaturwissenschaftler Matthias Buschmeier.
Sie unterhalten sich darin unter anderem über das im Zusammenhang mit dem Drama häufig aufgeworfene Humanitätspostulat, die Forschungs- und Rezeptionsgeschichte des Stücks, geschlechtertheoretische Lesarten, die Anlage der Figuren als gesellschaftstheoretische Versuchsanordnung sowie damit zusammenhängende Konzepte von Autonomie und Anerkennung.
Bitte beachten Sie: Interpretationsansätze sind keine allgemeingültigen Wahrheiten, sondern subjektive, mehr oder weniger plausible Herangehensweisen an literarische Texte, die je nach Methodik und Theorie sowie dem Einbezug unterschiedlicher Wissensfelder zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen können. Die Interpretation von Walter Erhart ist also als eine von vielen Möglichkeiten zu verstehen, das Drama zu lesen. Sie kann und sollte von Ihnen durchaus kritisch nachvollzogen werden.