Johann Wolfgang Goethe: „Stella“ (Fassung 1775)
Navigationsmenü
Klicken Sie oben, um sich den Einleitungstext vorlesen zu lassen.
Goethes „Stella“ ist der seltene Fall eines Dramas, das bei nahezu gleichbleibender Handlung zwei verschiedene Enden kennt und damit die dramatische Gattung wechselt. Als das Stück im Januar 1776 erstmalig erschien, lautete der Untertitel „Ein Schauspiel für Liebende“. 1802-03 überarbeitete Goethe in enger Diskussion mit Friedrich Schiller vor allem den Schluss und schuf damit die Vorlage für die Aufführung am Weimarer Theater am 15. Januar 1806. In der Druckfassung dieser Überarbeitung, die 1816 erstmals in der 20-bändigen Ausgabe von Goethes „Werken“ (1815-1819) bei Cotta publiziert wurde, lautete der Titel nun schlicht „Stella. Ein Trauerspiel“. Was war passiert?
Bereits anlässlich des Erstdruckes und der Erstaufführung in Hamburg am 8. Februar 1776 kochten die Emotionen hoch. Goethe hatte geahnt, dass es „nicht ein Stück für jedermann“ (MA 2006, S. 714) sei, wie er bereits im August 1775 an Sophie von La Roche schrieb. Die Reaktionen auf das Stück, welches Goethe noch vor seinem Wechsel von Frankfurt nach Weimar 1775 fertiggestellt hatte, hatten ihm deutlich gemacht, dass angesichts der sittlichen Provokation, als die der Schluss des Stücks mit einer von allen Beteiligten gewollten Dreiecksbeziehung aufgefasst worden war, dieses wohl kaum zur Aufführung am Weimarer Hoftheater geeignet war und es einer Überarbeitung bedurfte.
Mit dem frühen Untertitel stellte Goethe sein „Schauspiel für Liebende“ in die Tradition des empfindsamen Dramas, wie es seit der Mitte des 18. Jahrhunderts populär geworden war. Die Rezipient:innen dürften ein Rührstück mit viel Tränen und starken Gefühlen erwartet haben, an dessen Ende die Personen auf und vor der Bühne über das Überwinden von Familienzwist, Liebeskummer und Schicksalsschlägen gerührt werden und, in ihrem eigenen Gefühlshaushalt gestärkt, moralisch erbaut zurückbleiben. Die Gattung des „zärtliche[n] Schauspiel[s]“, wie es Johann Adolf Schlegel in seiner Schrift „Von der Eintheilung der Poesie“ (1751) genannt hatte, avancierte in der Aufklärung zu einer der populärsten Dramenformen überhaupt. In diesem Genre zeichnet sich eine allgemeine Tendenz in der Dramenproduktion des 18. Jahrhundert ab. Ausgehend von Entwicklungen in Frankreich und England näherten sich die in der klassizistischen Tradition eigentlich streng geschiedenen Gattungen von Komödie und Tragödie an. Je stärker die zuvor gattungsregulierende Ständeklausel eine zunehmende Aufweichung erfuhr, desto wichtiger wurde der dramatische Ausgang in der Bedeutung für die Gattungszuschreibung. Dabei vermischten sich auch die mit den Gattungen verknüpften Wirkungsintentionen, die mittels der Affekte angestrebt wurden.
Wenn Goethe an seine Tante Johanna Fahlmer im März 1775 schreibt, dass die Wirkung seines Stücks darauf ziele, dass Menschen „sich erkennen, wo möglich wie ich sie erkannt habe, und sollen wo nicht beruhigter, doch stärker in der Unruhe sein“ (MA 2006, S. 714), dann überschreibt er mit einer solchen Konzeption von Liebe auch „die Funktion der göttlichen Gnadenmittel“ (Willems 2004, S. 13) der lutherischen Theologie – Stärkung in seelischer Unruhe bei den Wechselfällen des Lebens – an die Dichtung.
Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass insbesondere Autoren, die zu Goethes Frankfurter Umfeld gehörten, wie Friedrich Maximilian Klinger, Verfasser des der literarischen Strömung ihren Namen gebenden Dramas „Sturm und Drang“ (1776), sich enthusiastisch über das Stück äußerten. Sie sahen darin den unmittelbaren Ausdruck einer Goethe’schen Herzensschrift (so in einem Brief an Boie vom 30. Januar 1778, MA 2006, S. 720), hinter der gesellschaftliche Moral und religiöse Normvorstellungen zurückzutreten haben.
Wird also ein moralpragmatisches Verständnis von Literatur, wie es Johann Christoph Gottsched in seiner „Critischen Dichtkunst“ (1730) gefordert hatte und das seinen Widerhall in der theologischen Praxis des Umgangs mit Literatur fand, von einer solch radikal veränderten Auffassung von Dichtung herausgefordert, so aber eben auch jene Tradition der Empfindsamkeit, die sich im Verbund mit pietistischen Ideen innerlicher Frömmigkeit noch weitgehend auf dem Boden christlicher Sittlichkeit sah bzw. aus dieser hervorging. Für diese Tradition müsste die im Stück gezeigte Kopplung von Liebe und Sexualität die Grenzen der eigenen empfindsamen Liebeskonzeption sprengen, für die die Verbindung von Liebe und Ehe sowie von Liebe und Tugendhaftigkeit konstitutiv blieb (Willems 2004, S. 4).
Textgrundlage:
Johann Wolfgang Goethe: Stella. Ein Schauspiel für Liebende, in: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Bd. 1.2, hg. von Gerhard Sauder, München: Hanser 1987, S. 37-77.
Soziale Räume des Dramas
- Wo spielt der erste Akt? Welche weiteren Räume können Sie identifizieren? Welche sozialen Milieus treffen aufeinander?
- Rekonstruieren Sie die Familienverhältnisse von Luzie und Madame Sommer.
- Können Sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der Postmeisterin und Madame Sommer in der Reflexion über ihre Position als Frau feststellen?
- Rekonstruieren Sie für sich Stellas Lebensgeschichte.
Die Handlungsorte Posthaus und Schloss
Sind aus den Handlungsorten Rückschlüsse auf das dramatische Genre des Stückes zu ziehen? Denken Sie dabei auch an Ihre Bearbeitung von Gellerts „Zärtliche Schwestern“ zurück.
Die Rückkehr des Grafen von Gleichen,
Öl auf Leinwand, 1864
(CC BY-SA 4.0 von literaturgeschichten.de)
Aufbau und Struktur des Dramas
Im Stück nutzt Goethe wiederholt das Mittel der Anagnorisis.
- Inwiefern unterscheidet sich, was Madame Sommer am Ende des zweiten Aktes widerfährt, von Stellas Ausruf „Er ist wieder!“? Beobachten Sie, wie im Folgenden das Mittel der Anagnorisis von Goethe eingesetzt wird.
- Was erfährt das Publikum über Fernando und Madame Sommer im 3. Akt? Wie gestaltet Goethe diese „Entdeckung“?
- Warum erzählt Cezilie die „Erzählung vom Grafen“? Diskutieren Sie die Funktion diese Geschichte für die Struktur des Dramas.
Einige Affekte oder Gemütsregungen, um 1770.
Hoffnung und Freude; Traurigkeit und Mitleid;
Verwunderung; Rasender Zorn
(CC BY-SA 3.0 von der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel)
Geschlecht und Affekt
- Lesen Sie aufmerksam den Dialog zwischen Fernando und Luzie im 1. Akt. Diskutieren Sie: Welche Vorstellungen über die Rolle der Geschlechter werden implizit oder explizit geäußert?
- Diskutieren Sie, warum sich Stella und Madame Sommer bei ihrer ersten Begegnung unmittelbar verstehen? Welches Substantiv wird häufig genannt?
- Diskutieren Sie die Haltung von Stella und Madame Sommer mit Blick auf den männlichen Geliebten. Wie ist die „Affektposition“ der Frau dargestellt? Vergleichen Sie diese Darstellung auch mit der Auffassung Luzies im ersten Akt.
- Achten Sie darauf, wie im Nebentext, vor allem des 3. Aktes, die Gefühlslage der Madame Sommer beschrieben wird.
- In welcher Gefühlslage sehen wir Fernando am Ende des 3. Aktes?
Affekte der Figuren
Ordnen Sie die Affekte, die durch Haupt- und Nebentext bis hierhin deutlich wurden, den Figuren Fernando, Stella und Madame Sommer/Cezilie zu. Greifen Sie dafür auf die Liste der Affekte zurück, die Sie zu Beginn des Kurses kennengelernt haben. Erkennen Sie Unterschiede zwischen den männlichen und weiblichen Figuren?
Hören Sie sich auch gerne erneut die Podcasts unter 2.6. „Gesten der Affekte“ an.
Sprache und Gefühl
- Bestimmen Sie die rhetorische Stillage („genera dicendi“) der ersten Dialoge im ersten Akt.
- Charakterisieren Sie kurz die Sprache, die Stella und Fernando bei ihrem Wiedersehen im dritten Akt verwenden.
- Vergleichen Sie die Sprache zwischen Cezilie und Fernando mit jener zwischen diesem und Stella.
- Wie beschreibt Stella ihre veränderte Gefühlslage im Eingangsmonolog des 4. Aktes?
- Wovon scheint Stellas Affekthaushalt abzuhängen?
- Diskutieren Sie, warum Stella Cezilie um Vergebung bittet.
- Vergleichen Sie die Sprache und die Gefühlslage von Stella und Fernando in ihren Eingangsmonologen im 5. Akt. Was muss das Publikum fürchten?
- Welche Rolle spielt Sprache ganz am Ende des Stückes? Wie wird „Verständigung“ hergestellt? Warum auf diese Weise?
Schlussbild des Stückes
Versuchen Sie das Schlussbild des Stückes zu malen. Achten Sie dabei auch besonders auf die Regieanweisungen im Nebentext.
Diskutieren Sie in ca. 500 Wörtern, welches Verhältnis von Sprache, Körper und Affekt hier zum Ausdruck gebracht wird.
Der Triumph der Empfindsamkeit, 1787
(CC BY-SA 3.0 von der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel)
„Stella“ als ein repräsentatives Stück der Empfindsamkeit?
Blicken Sie zurück auf die im Einleitungstext problematisierte literaturgeschichtliche Einordnung des Stückes. Stellen Sie nun folgendes Gedankenspiel an: Wenn „Stella“ als ein repräsentatives Stück der Empfindsamkeit angesehen werden könnte, was ließe sich dann über den Zusammenhang von sprachlicher Gestaltung und Affekt in dieser literaturgeschichtlichen Strömung sagen? Diskutieren Sie, ob man angesichts des Verlaufs des Stückes uneingeschränkt von einer ‚Verabsolutierung der Sprache des Herzens‘ sprechen kann.