Medien des Erzählens

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Unser Kurs hat die Erzählliteratur im 19. Jahrhundert im Kontext ihrer Entstehungs- und Publikationsbedingungen zum Gegenstand. Wir möchten Sie als Studierende des Kurses damit an die sozialhistorischen Voraussetzungen von Autorschaft im 19. Jahrhundert heranführen. Denn die ‚kleinen‘ Formen des Erzählens werden nun an neue Publikationsmedien gebunden, die eine – im Vergleich zum 18. Jahrhundert – wesentlich verbreitete Leserschaft adressieren, die immer neue Lektürestoffe einfordert.

Unser Fokus auf kürzere Erzähltexte soll nicht den Blick darauf verstellen, dass es eigentlich der Roman ist, der im 19. Jahrhundert zum neuen Leitmedium avanciert. Keine andere Gattung erlebt einen derartigen Aufschwung und eine vergleichbare Ausdifferenzierung in Subgattungen und Genres. Dem Roman an die Seite treten in dieser Zeit aber auch vielfältige kürzere Prosaformen, wie die moralisch-erbauliche Erzählung, das Bild, die Idylle, das Märchen, die Legende, die Kalendergeschichte, die Dorfgeschichte und insbesondere die Novelle (vgl. Sengle 1972, S. 123-183). Ihren Publikationsort finden diese Texte in Erzählsammlungen, Almanachen, Taschenbüchern, Kalendern, Journalen und zunehmend wichtiger werdenden (politischen) Tageszeitungen sowie einer Vielzahl und Vielfalt von Literatur- und Kulturzeitschriften, Familien- und Conversationsblättern. Während der Roman mit der Breite seiner Darstellung (und der Dicke seiner Bücher), insbesondere seit dem Realismus und im Anschluss an die französische Tradition, die „Totalität“ (Georg Lukács) der gesellschaftlichen Lebenswelt abzubilden und die Leser:innen dabei zu unterhalten suchte, waren es die kleineren Erzählformen, die diese in und durch die Miniatur symbolisch erfassten und deuteten – ohne dabei freilich die Funktion von Unterhaltung und/oder Erziehung preiszugeben. Romane, aber eben auch die anderen, die kürzeren Prosaformen wie Erzählung und Novelle, greifen die großen sozialen, technischen und wirtschaftlichen Transformationsprozesse des 19. Jahrhunderts auf. Die wachsenden Städte, aber auch ländliche und dörfliche Handlungsorte werden zu Räumen, in und an denen sich der oftmals als Bedrohung alter Ordnungsstrukturen empfundene Wandel vorführen lässt. Belletristische Lektüre im 19. Jahrhundert bedeutet für die Leser:innen, deren Lebenswelt sich radikal veränderte, die Möglichkeit zur Ablenkung, aber auch den Versuch zur Reorientierung und Sinnstiftung. Gerade in der erzählenden Literatur konnte nicht nur, aber vor allem das Bürgertum ein Medium der Selbstvergewisserung, aber auch einen kritischen Spiegel seiner Wertvorstellungen und Lebensweisen finden. Dabei wird deutlich, dass dieses Bürgertum keineswegs eine homogene Klasse darstellt, sondern sich im Laufe des 19. Jahrhunderts in unterschiedliche Milieus mit ihren eigenen Medien- und Lektürevorlieben ausdifferenziert.

Die Formenvielfalt erzählender Texte und deren inhaltliche Diversität lässt sich exemplarisch im historischen Verlauf gut an kürzeren Prosagattungen aufzeigen – etwa an Märchen, Novellen, Kalendergeschichten. Auf diese beziehen sich deswegen die Arbeitsaufgaben. Allgemeine Informationen zur Gattung Prosa als immer beliebter werdende Darstellungsform und zu erzähltheoretischen Voraussetzungen des Romans im 19. Jahrhundert sind in Form eines Expertengesprächs und einer Vorlesung abrufbar.


Die Aufgabenstellungen und Erläuterungen sind methodisch-thematisch an folgenden vier Schwerpunkten orientiert: Erstens werden soziale, technische und politische Voraussetzungen literarischen Schreibens einbezogen, die durch die Vergrößerung des Buchmarkts und das sich verändernde Lesepublikum entstehen. Zweitens wird die dadurch bedingte, neue Situation der Autor:innen beleuchtet und drittens die erzählende Literatur als Medium der Bildung und der bürgerlichen Selbstpositionierung behandelt und auch – viertens – als Medium der Unterhaltung in den Blick genommen. 

In der folgenden Präsentation im Kurs haben wir die Texte für Sie – dem ältesten literaturgeschichtlichen Ordnungsmuster folgend – chronologisch angeordnet. Bitte folgen Sie der nummerierten Anordnung der Tabs in Ihren Lektüren. Im Tab 3 „Medien des Erzählens“ werden die Lektüren ihren jeweiligen medialen und gattungsgeschichtlichen Kontexten zugeordnet. Es ist daher für unseren thematischen Zugriff wichtig, dass Sie sich diese Inhalte gut aneignen und mit diesem Hintergrundwissen in die Primärlektüren einsteigen. Viel Spaß! 

Matthias Buschmeier, Tanja Angela Kunz