Heinrich von Kleist: "Das Erdbeben in Chili" (1807)
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Kleists Erzählungen sind von tiefgreifenden Krisenerfahrungen geprägt, die Gestalt finden in der Form erzählerisch ‚kalter‘ Katastrophenszenarien. Auch in der 1807 in Cottas „Morgenblatt für gebildete Stände“ erstveröffentlichen Novelle „Das Erdbeben in Chili“ entwirft Kleist ein solches Katastrophenszenarium.
Kleist ruft in dieser Novelle mit dem Erdbeben von Santiago de Chile aus dem Jahr 1647 einerseits ein in der Entstehungszeit des Textes mehr als einhundertfünfzig Jahre zurückliegendes Ereignis in Erinnerung, perspektiviert die Erinnerung daran allerdings auf eine zweite Naturkatastrophe, die den Leser:innen von 1810 ungleich deutlicher noch vor Augen gestanden haben dürfte, da sie nachhaltig die von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) am Anfang des Jahrhunderts der Aufklärung philosophisch befestigte Gewissheit erschüttert hatte, in der von Gott hervorgebrachten besten aller möglichen Welten zu leben: nämlich auf das Erdbeben, das am Allerheiligentag 1755 Lissabon verwüstete. Das Schreckensgeschehen dieses Ereignisses hatte eine noch nach der Jahrhundertwende virulente Debatte über die Güte Gottes angesichts der Existenz des Bösen und des Übels in der Welt nach sich gezogen (vgl. Gamper 2008, S. 520–535). Ein ‚politisches‘ Beben, die Französische Revolution, die um 1800 ihren anfänglich bei den deutschen Intellektuellen noch bestehenden Glanz als (sinn-)erfüllter Augenblick der Geschichte eingebüßt hatte und nun in einer Verschränkung von Politik und Katastrophe diskutiert wurde (vgl. Eke 1997), bildet den zweiten Subtext der in „Das Erdbeben in Chili“ erzählten Geschichte.
In der Fluchtlinie beider Geschehenszusammenhänge verschränkt Kleist in „Das Erdbeben in Chili“ die ‚große‘ Katastrophe der „Erderschütterung vom Jahre 1637, bei welcher viele Tausend Menschen ihren Untergang fanden“ (Kleist 1990, S. 189), mit der ‚kleinen Katastrophe‘, die dem Liebespaar Jeronimo und Josephe widerfährt und es im Ergebnis einer durch das Wechselbad von Verderben und Rettung führenden Handlung das Leben kostet. Umstandslos eröffnet Kleist mit dem ersten Satz der Erzählung das Spiegelkabinett dieser wechselseitigen Bezogenheiten von Kollektiv- und Individualgeschichte: „In St. Jago, der Hauptstadt des Königreichs Chili, stand gerade in dem Augenblicke der großen Erderschütterung vom Jahre 1647, bei welcher viele tausend Menschen ihren Untergang fanden, ein junger, auf ein Verbrechen angeklagter Spanier, namens Jeronimo Rugera, an einem Pfeiler des Gefängnisses, in welches man ihn eingesperrt hatte, und wollte sich erhenken“ (Kleist 1990, S. 189).
Erzählter Schrecken
Als Hauslehrer einer wohlhabenden und einflussreichen Familie hatte sich Jeronimo auf ein Verhältnis mit der Tochter seines Dienstherrn Josephe eingelassen. Die Beziehung war entdeckt, Jeronimo des Hauses verwiesen und Josephe in einem Karmeliterkloster untergebracht worden. Zu diesem hatte sich Jeronimo, begünstigt „durch einen glücklich Zufall“, Zugang verschafft und „in einer verschwiegenen Nacht den Klostergarten zum Schauplatze seines vollen Glücks gemacht“ (Kleist 1990, S. 189), was nicht ohne Folgen geblieben war. Josephe war schwanger geworden und hatte ihr Kind unvorbereitet „am Fronleichnamsfeste“ bei der feierlichen Prozession der Nonnen „auf den Stufen der Kathedrale“ (Kleist 1990, S. 189) zur Welt gebracht, womit der Skandal öffentlich geworden war – mit fatalen Folgen für die Liebenden: Josephe wird einem ‚peinlichen Verhör‘ (Folter) unterzogen und zum Tod zunächst auf dem Scheiterhaufen, dann durch das Schwert verurteilt; auch Jeronimo wird ins Gefängnis geworfen, wobei die genaueren Gründe dafür im Dunklen bleiben. All das gehört zur Vorgeschichte, die Kleist der fulminanten Eröffnung erläuternd nachträgt.
Das Erdbeben selbst ereignet sich am Tag der Hinrichtung Josephes, die im allgemeinen Chaos nach dem Beben nicht nur fliehen, sondern auch den ihr entzogenen Sohn Philipp wieder an sich nehmen kann; auch Jeronimo entkommt aus dem Gefängnis. Vor den Toren der Stadt finden sich die Liebenden im idyllischen Naturraum eines Tals wieder, der Josephe mit den friedlich dort miteinander verkehrenden Menschen aller sozialen Schichten anmutet, „als ob es das Tal von Eden gewesen wäre“ (Kleist 1990, S. 201). Die Wiedervereinigung der Liebenden zur Kleinfamilie findet Anerkennung und Legitimation durch die Aufnahme Jeronimos, Josephes und ihres Sohnes Philipp in die Familiengemeinschaft Don Fernandos, der mit seiner Frau Donna Elvire, dem im Säuglingsalter befindlichen Sohn Juan, Schwiegervater und Schwägerinnen ebenfalls Ruhe und Schutz in der vom Chaos der Zerstörung unberührten Natur gefunden hat. Josephe säugt den Sohn des Paares an ihrer Brust, was die Wiederaufnahme der Verfemten in die soziale Ursprungsfamilie symbolisch bekräftigt.
Um für ihre Rettung zu danken, beschließen Jeronimo und Josephe einen Gottesdienst in der einzigen vom Erdbeben verschonten Kirche zu besuchen. In Begleitung Don Fernandos, des kleinen Juan und Don Fernandos Schwägerin Donna Constanze (die verletzte und geschwächte Donna Elvire bleibt mit Jeronimos und Josephes Kind an der Lagerstätte der Gruppe im Tal zurück), nehmen sie an der Messe teil, bei der ein Chorherr in seiner Predigt die über die Stadt hereingebrochene Katastrophe ursächlich auf den Zorn Gottes über die allgemeine Sittenverderbnis zurückführt und namentlich das skandalöse Liebesverhältnis von Jeronimo und Josephe zum unmittelbaren Auslöser der Naturkatastrophe erklärt. Als beide in der Kirche erkannt werden, kommt es zum Tumult. Die Erschütterung der Überlebenden bricht sich in einem auf die vermeintlich Schuldigen gerichteten Gewaltexzess Bahn, dem die Liebenden und der irrtümlicherweise für ihren Sohn gehaltene Juan zum Opfer fallen, bevor der rasende Mob zur Besinnung kommt, die Situation sich beruhigt und wieder Ordnung einkehrt. Zumindest will es so scheinen, als ob nach der Entladung der Gewalt die Rückkehr des Lebens in geordnete Bahnen möglich sei. Die Erzählung immerhin endet damit, dass Don Fernando und Donna Elvire den im Tal zurückgelassenen Philipp an Kindes statt annehmen. „Don Fernando und Donna Elvire“ – mit diesem etwas rätselhaften Satz endet Kleist die Erzählung, „nahmen hierauf den kleinen Fremdling zum Pflegesohn an; und wenn Don Fernando Philippen mit Juan verglich, und wie er beide erworben hatte, so war es ihm fast, als müßt er sich freuen“ (Kleist 1990, S. 221). Das angenommene Kind ist ein ‚Findling‘, mit dem die Erinnerung an die gelebte Idylle im Außerhalb der Stadt als erfahrene Möglichkeit eines Anderen fortlebt. Andererseits bleibt mit ihm die Katastrophe in der restituierten Ordnung erhalten: als lebendige Spur des (Um-)Sturzes.
Druckgeschichte
Der Erstdruck der Novelle erfolgte vom 10. bis zum 15. September 1807 im „Morgenblatt für gebildete Stände“ (Nr. 217–221) unter dem Titel „Jeronimo und Josephe. Eine Scene aus dem Erdbeben zu Chili, vom Jahr 1647“. Erst in der Buchausgabe der 1810/11 in Reimers Realschulbuchhandlung erschienenen „Erzählungen“ Kleists (hier im ersten Band) erhielt sie den heute gebräuchlichen Titel, der die Aufmerksamkeit von den beiden Protagonisten in Richtung auf die erzählte Katastrophe lenkt: auf das verheerende Erdbeben, das am 13. Mai 1647 Santiago de Chile zerstörte.
Norbert Otto Eke
Textgrundlage:
Heinrich von Kleist: Jeronimo und Josephe/Das Erdbeben in Chili, in: Kleist, Heinrich von: Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden, hg. v. Ilse-Marie Barth/Klaus Müller-Salget/Stefan Ormanns/Hinrich C. Seeba, Bd. 3: Erzählungen, Anekdoten, Gedichte, Schriften, hg. v. Klaus Müller-Salget, Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 1990, S. 188–221.
Das Unerhörte
Betrachten Sie die Erzählweise der Novelle: Arbeiten Sie heraus, worin das ‚Unerhörte‘ besteht. Denken Sie hierbei auch an den einführenden Podcast zur Gattung. Versuchen Sie möglichst alle Momente des ’Unerhörten‘ im Text herauszuarbeiten.
Diskutieren Sie Ihre Gedanken hierzu miteinander in der Gruppe.
Das Unerhörte
Fassen Sie die Ergebnisse Ihrer Diskussion in einem eigenständigen Text von ca. 500 Wörtern zusammen.
Lösungs- und Reflexionshinweise
Gattungsmerkmale
Ein in der Gattungstheorie stark gemachtes Merkmal novellistischen Erzählens ist die Organisation der Handlung über Wendepunkte. Ludwig Tieck hat so den Wendepunkt als das eigentliche Charakteristikum der Novelle herausgestellt und von hier aus die Novelle als eine Erzählform bestimmt, die strukturell durch die Einführung eines neuen, überraschenden Ereignisses bestimmt ist. An welchen Stellen lassen sich im „Erdbeben“ überraschende Wendungen und Wechsel finden? Welche Rolle spielen dabei Zufälle?
Störung und Entstörung
Wie aber verhält es sich vor diesem Hintergrund mit dem rätselhaften Schlusssatz der Erzählung? Oberflächlich betrachtet folgt der Ablauf des erzählten Geschehens in „Das Erdbeben in Chili“ dem Muster von Störung und Entstörung. Wird durch das Erdbeben anfänglich eine als verbindlich angenommene Ordnung grundlegend gestört, wird am Ende der Novelle die Restituierung der Ordnung wieder denkbar. Arbeiten Sie heraus, worauf diese neue bzw. erneuerte Ordnung basiert.
Wendung
Diskutieren Sie: Nimmt das Schreckensszenario damit eine ‚Wendung‘ ins Gute? Und wenn ja: Ist diese ‚Wendung‘ stabil?
Lösungs- und Reflexionshinweise
Neuformierung
Werfen Sie von hier aus noch einmal einen Blick auf die Idylle im Mittelteil der Novelle. Diskutieren Sie die Tragfähigkeit des in ihr entworfenen Gegenbilds einer neuen Menschengemeinschaft.