Gottfried Keller: "Kleider machen Leute" (1874)
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In einem Aphorismus aus „Menschliches Allzumenschliches“ gibt Friedrich Nietzsche Keller ein von ihm selten zu hörendes Lob: „Die Leute aus Seldwyla“ seien eines jener deutschen Prosabücher, „das es verdiente, wieder und wieder gelesen zu werden“ (Nietzsche 1988, S. 599). „Kleider machen Leute“ aus dieser Sammlung ist eine der berühmtesten Erzählungen des Schweizers Gottfried Keller (1819–1890). Sie ist bereits 1921 durch Hans Steinhoff als Stummfilm verfilmt worden; Heinz Rühmann (1940) und Paul Verhoeven (1962) legten weitere filmische Adaptionen vor. Die Novelle wurde zu drei Opern und mindestens einem Theaterstück verarbeitet; 2016 erschien eine Graphic Novell von Martin Krusche. Überhaupt entstammen der Erzählsammlung „Die Leute von Seldwyla“ einige der bekanntesten Texte von Keller (etwa „Romeo und Julia auf dem Dorfe“). Die Sammlung hat entscheidend zu Kellers literarischem Ruhm beigetragen und bedeutete für den Autor einen wichtigen Schritt hin zur Existenzmöglichkeit als freier Schriftsteller (ab 1876).
Der Novellenzyklus enthält in zwei Teilsammlungen, die jeweils mit einer eigenständigen Einleitung versehen sind, je fünf Novellen. Die Entstehung erstreckte sich über einen Zeitraum von nahezu 30 Jahren, von ca. 1850 bis 1873. Die erste Auflage von „Die Leute in Seldwyla“ erschien 1856 bei Vieweg in Braunschweig mit den ersten fünf Novellen „Pankraz der Schmoller“, „Frau Regel Amrain und ihr Jüngster“, „Romeo und Julia auf dem Dorfe“, „Die drei gerechten Kammmacher“ und „Spiegel, das Kätzchen“. 1873/74 folgte eine zweite, um weitere fünf Novellen vermehrte Auflage nun bei Göschen in Stuttgart, deren Auftakt „Kleider machen Leute“ bildete, gefolgt von „Der Schmied seines Glückes“, „Die missbrauchten Liebesbriefe“, „Dietgen“, und „Das verlorene Lachen“.
Die Einleitungen zu den Texten bilden nur einen losen Rahmen; auf eine Herausgeber- oder Erzählerfiktion wird – anders als in Kellers „Züricher Novellen“ (1860–1877) – verzichtet. Auch findet sich keine novellistische Rahmenhandlung, wie es im 19. Jahrhundert im Anschluss an das gattungsbildende Muster des „Decamerone“ des Giovanni Boccaccio aus der Mitte des 14. Jahrhunderts noch oft nachgeahmt wurde, so in Goethes „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“ (1795), Wielands „Das Hexameron von Rosenhain“ (1803/4) oder in E.T.A Hoffmanns „Die Serapions-Brüder“ (1818–1821). Gemeinsam ist allen Erzählungen der (mal stärker mal schwächer ausgeprägte) Bezug auf den Ort Seldwyla. Auch wenn es den Ort, südlich von Zürich, zwischen Greifensee und Zürichsee gelegen, in der Schweiz tatsächlich gibt, so ist das literarische Seldwyla doch eine Erzählfiktion.
Hubert Ohl erkannte 1969 in „Verweisungen einzelner Erzählungen aufeinander“ eine „kompositorische Absicht“ (Ohl 1969, S. 219) Kellers, die durch die veränderte Anordnung der Erzählungen deutlich würde. Dies kann aber nur schwerlich als Beleg gelten, zumal diese Änderung, ebenso wie die neue Aufteilung auf insgesamt vier kleine Teilbände, auch buchhändlerische Gründe gehabt haben könnte. Die Bezeichnung „Novellenzyklus“, die oft in der Forschung (so auch jüngst von Honold 2018, S. 28) für die Sammlung gebraucht wird, ist daher auch etwas irreführend. Keller selbst untertitelte die Sammlung schon in der Erstausgabe lediglich mit „Erzählungen“. Ob und inwiefern die Texte Novellen sind und darüber hinaus kompositorisch einen Zyklus bilden, wäre erst ein Ergebnis von Interpretation. Anders als im dekameronistischen Erzählmodell findet sich nämlich auch kein rahmender Abschluss mehr. Angesichts des langen Entstehungszeitraumes, an dessen Beginn Keller offenbar keinen zweiten Teil geplant hatte, und angesichts der Tatsache, dass Keller einen stärkeren Zusammenhang unter den Novellen auch nicht in den zu Lebzeiten veranstalteten Ausgaben herstellte, ist davon auszugehen, dass Keller selbst nicht an einen Zyklus im strengeren Sinne dachte.
Matthias Buschmeier
Textgrundlage:
Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla. Text und Kommentar, hg. v. Thomas Böning, Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 2006.
Lesen Sie zuerst die „Einleitung“ zum ersten Band von „Die Leute von Seldwyla“ aus dem Jahr 1855 und dann die „Einleitung“ zum zweiten Band, die 1874 als 3. Band der zweiten und vermehrten Aufl. in vier Bänden bei Göschen erschienen war.
Der Erzähler beginnt die Erzählsammlung mit einem Hinweis auf die Bedeutung des Ortsnamens. Recherchieren Sie (z.B. in den Kommentaren zu Ausgaben), die Bedeutung des Wortes Selwyla und wie sich dieser etymologischer herleiten lässt.
Wie charakterisiert der Erzähler die Leute aus Seldwyla in der Einleitung von 1855. Was zeichnet sie aus? Welchen Ton schlägt der Erzähler in der Einleitung ein? Wie positioniert er sich den Leuten aus Seldwyla gegenüber?
Welche Art von Geschichten kündigt der Erzähler für das Folgende an?
In der Einleitung zum zweiten Band, in dem als erste Erzählung „Kleider machen Leute“ folgt, wirft der Erzähler einen erneuten, nun veränderten Blick auf Seldwyla. Was wird über die Stadt ausgesagt? Was hat sich verändert?
Diskutieren Sie, wieso der Erzähler Seldwyla einerseits recht konkret verortet andererseits aber einen fiktiven Ortsnamen wählt. Wie verhalten sich der Lokal- und Weltbezug zueinander? Welche Funktion wird den Erzählungen aus Seldwyla damit vom Erzähler zugeschrieben?
Lesen Sie nun die Erzählung „Kleider machen Leute“.
Achten Sie darauf, wie das Äußere des Schneiders beschrieben wird. Warum ist seine äußere Erscheinung für ihn zunächst ein Problem? Wann, wie und warum ändert sich dies? Wer ist verantwortlich für die veränderte Wahrnehmung des Schneiders?
Finden Sie Informationen dazu, ob die Beschreibung von Wenzel Strapinski etwas mit Keller selbst zu tun haben könnte.
Was ist der terminus post quem für die Handlungszeit der Erzählung? Recherchieren Sie die Bedeutung des Begriffs und identifizieren Sie Textstellen, um diesen festlegen zu können.
Beschreiben Sie den Veränderungsprozess der Figur Strapinski? Womit vergleicht ihn der Erzähler? Visualisieren Sie nun den Handlungsgang der Erzählung, indem Sie zentrale Momente der Handlung auf einem chronologische Verlaufsstrahl eintragen.
Wie wird Strapinski entlarvt? Diskutieren Sie den Zusammenhang von Fastnachtumzug mit dem Thema der Erzählung.
In der Erzählung spielt Kredit und Vermögen immer wieder eine zentrale Rolle. Identifizieren Sie die Stellen und diskutieren Sie deren Bedeutung für die Entwicklung des Protagonisten.
Für den Ortsnamen Seldwyla haben Sie bereits eine Bedeutung recherchiert. Inwiefern könnte der Ortsname „Goldach“ auch eine bedeutungstragende Funktion haben? Welche Funktion hat überhaupt die kleinstädtische Szenerie für die Verwechselungsgeschichte? Wie beschreibt der Erzähler die Stadt und ihre Gebäude? Was sagt dies über die Stadt aus? Diskutieren Sie, welche Funktion diese Beschreibung für die Erzählung haben könnte.
Was meint der Erzähler, wenn er von einer „Eulenspiegelei“ spricht? Informieren Sie sich über die Geschichten von Till Eulenspiegel. Diskutieren Sie, warum der Erzähler wohl diese Parallele zieht?
Diskutieren Sie das Verhältnis von Wenzel zu den Bürger:innen von Seldwyla und Goldach? Wie verhalten sich diese ihm gegenüber? Wie verbringen sie ihre Tage? Warum kehrt er wieder nach Goldach zurück? Wie behandelt Keller damit in der Erzählung die für das 19. Jahrhundert zentrale Kategorie des Bürgertums und seiner Werte?
Immer wieder ist Keller mit der Erzählsammlung eine ‚didaktisch-erzieherische Tendenz‘ (Schrimpf, Hans Joachim: Das Poetische sucht das Reale. Probleme des literarischen Realismus im 19. Jahrhundert. Am Beispiel Gottfried Kellers. In: Jutta Kolkenbrock-Netz, Gerhard Plumpe, Hans Joachim Schrimpf (Hg.): Wege der Literaturwissenschaft. Bonn 1985, 145 – 162, 153ff.) unterstellt worden. Alexander Honold (Die Tugenden und die Laster. Gottfried Kellers Die Leute von Seldwyla. Basel: Schwabe 2018, 20) hat in diesem Zusammenhang sogar von einem „Topos“ der Keller-Forschung gesprochen. Diskutieren Sie, ob und wenn ja welche Moral die Erzählung haben könnte? Handelt es sich um eine moralische Erzählung? Informieren Sie sich über diese Gattung und diskutieren Sie, ob man „Kleider machen Leute“ ihr zuschlagen könnte.
Die Leute aus Seldwyla wurde immer wieder als Novellenzyklus beschrieben. Recherchieren Sie typische formale Merkmale einer Novelle. Lesen Sie den Artikel im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft und folgenden Abschnitt aus Lars Korten, Poietischer Realismus, Berlin, New York: Max Niemeyer Verlag, 2009, S. 8-16. Untersuchen und diskutieren Sie, inwiefern Kleider machen Leute in diesem Sinne eine Novelle genannt werden kann.
Diskutieren Sie, inwiefern die Entwicklung, die der „romantische Träumer“ Strapinski bis zum Ende der Erzählung nimmt auch ein literaturgeschichtlicher Kommentar zur Entwicklung der Erzählliteratur im 19. Jahrhundert sein könnte. Wie positioniert sich die Erzählsammlung Kellers insgesamt dazu?