Theodor Storm: "Der Schimmelreiter" (1888)
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1817 in Husum geboren, 1888 nicht weit von dort, in Hanerau-Hademarschen, verstorben, zählt Theodor Storm zu den prominentesten und wichtigsten Erzählern des 19. Jahrhunderts. Seine bevorzugte Gattung war die Lyrik, daneben schrieb er Novellen und Kunstmärchen. Seinen Lebensunterhalt verdiente er als Jurist. „Der Schimmelreiter“ ist seine umfangreichste und komplexeste Novelle. Storm vollendete sie wenige Monate vor seinem Tod.
Eine dunkle Gestalt mit brennenden Augen und flatterndem Mantel auf einem hageren Pferd, Wellen, die hart an den Deich schlagen, und ein Himmel voll von schwarzen Wolken: Gruselig-anschaulich inszeniert Theodor Storm den ersten Auftritt des Schimmelreiters in seiner 1888 erschienenen Novelle. Deren Grundlage ist eine Wiedergängersage aus der Weichselgegend, die der Autor in Form einer Spukgeschichte nach Nordfriesland versetzt (vgl. Freund 1984). Wie die meisten seiner Texte veröffentlichte Storm auch den „Schimmelreiter“ zunächst in einem Periodikum, in diesem Fall in der Zeitschrift „Deutsche Rundschau“ (Bd. 55, April 1888), bevor er ihn für den Buchdruck vorbereitete.
Für Theodor Storm war die Veröffentlichung in solchen weit verbreiteten, seriösen Periodika erstens eine Möglichkeit, seine Sichtbarkeit und sein Renommee zu erhöhen. Zweitens verdiente er durch den Vorabdruck von Texten in Zeitschriften mehr Geld als mit der reinen Buchpublikation, und drittens konnte die Forschung nachweisen, dass er Hinweise seiner ersten Leserinnen und Leser nutzte, um seine Texte zu bearbeiten. Claudia Stockinger schreibt dazu:
„Vor diesem Hintergrund muss man sich klar machen, dass es im Fall von Storms Novellenproduktion ‚den‘ Erzähltext gar nicht gibt. Von der ersten ‚Kontrollinstanz einer vorlesenden Erprobung‘ an entstehen Storms Texte im Prozess intermedialer Transformationen bis hin zur Gesamtausgabe […]. Konkret achtete Storm sehr genau auf die Reaktionen seiner Zuhörer bei Lesungen im Entstehen befindlicher Texte […] und interessierte sich für Hinweise befreundeter Leser zu den Erstveröffentlichungen in Periodika […]. Die meist in unmittelbarer zeitlicher Nähe dazu veranstalteten Buchfassungen revidierte er entsprechend.“ (Stockinger 2017, S. 118)
Die Genese der Novelle „Der Schimmelreiter“ ist erst seit 1999, seit dem Fund der sogenannten „Concept“-Handschrift, vollständig rekonstruiert und in einer historisch-kritischen Edition dokumentiert (vgl. Eversberg 2014). Aufgrund der authentisch wirkenden Figuren, des Lokalkolorits, der äußerst komplexen Erzählstruktur und wegen der effektvollen Gestaltung der darin behandelten, immer noch aktuellen Themen zählt „Der Schimmelreiter“ zu den zentralen Texten deutschsprachiger Literatur des 19. Jahrhunderts. Ohne die Novelle darauf zu reduzieren, geht es darin u.a. um Konflikte in einer Dorfgemeinschaft, unter deren Mitgliedern sich sowohl Anhänger mündlich überlieferten Aberglaubens als auch technischen, auf Rationalität basierenden Fortschritts finden. In diesem Zusammenhang wird auch das Verhalten des Menschen, der die Natur in Besitz nimmt und für seine Zwecke (be-)nutzt, problematisiert. Außerdem spielt Storm innerhalb seiner Novelle immer wieder mit den Kategorien ‚Fakt‘ und ‚Fiktion‘: Gibt es den Schimmelreiter wirklich? Oder ist er nur Produkt einer überreizten Einbildungskraft? Ist es sinnvoll, in einen Deich vor dessen Vollendung etwas Lebendiges einzugraben, um vor schlimmen Sturmschäden wirklich geschützt zu sein? Oder ist der Glaube an übernatürliche Kräfte als überholt und unaufgeklärt abzulehnen? Dies alles sind Fragen, die sich anhand von Storms Text diskutieren lassen. „Der Schimmelreiter“ steht exemplarisch für ein ebenso realistisches wie fantastisches Erzählen, durch das die thematische wie formale Breite von Prosaformen im 19. Jahrhundert einmal mehr aufgezeigt wird.
Anne-Rose Meyer
Textgrundlage:
Theodor Storm: Der Schimmelreiter. Mit Anm. v. Hans Wagener u. Sabine Wolf, Ditzingen: Reclam 2020.
Was könnten – Ihren ersten Leseeindrücken zufolge – Gründe für diese dreifache Staffelung des Erzählens sein? Welche Effekte erzielt Storm dadurch?
Bitte lesen Sie jetzt die Novelle ganz und notieren Sie Ihre Überlegungen in Stichworten. Diskutieren Sie diese ggf. mit Ihrer Arbeitsgruppe.
Sie erhalten anschließend in Form einiger Kurzzitate aus der Forschungsliteratur Hinweise auf Deutungsmöglichkeiten, die Storm durch seine besondere Erzählweise eröffnet.