Zur Einführung in den Kurs

Matthias Buschmeier
Hier finden Sie die eingesprochene Version des ersten Textteils

Unser Kurs zum Drama nimmt das lange 19. Jahrhundert als einen Zeitraum des sich beschleunigenden Wandels ästhetischer und dramaturgischer Praktiken im Kontext der sozialen und politischen Umwälzungen in den Blick. Der relativ abrupte Zusammenbruch der goethezeitlichen Ästhetik in ihrer Leitfunktion um 1830 und die Restabilisierung des Literatursystems im Realismus nach 1850 werden verstanden als Wegmarken einer Transformationsdynamik mit einander abwechselnden Phasen der Beschleunigung und der Stillung dramaturgischer Suchbewegungen von unterschiedlicher Stärke und Radikalität. 

Es ist augenfällig, dass das Drama – und nicht allein diese Gattung – im 19. Jahrhundert immer wieder auf mythologische und historische Stoffe zurückgreift, um die eigene Gegenwart zu deuten. Das Theater begreift sich stärker als Ort der sozialen und politischen Intervention, als es etwa die poetologischen Entwürfe Schillers um 1800 erlauben wollen, wenngleich dessen eigene dramatische Praxis mit der Fokussierung auf historisch-politische Stoffe dieser Entwicklung den Weg ebnet. Auch Schillers moralische Schaubühne ist Gegenwartsdramatik.

Im ‚Jahrhundert des Bürgertums‘ begleitet und reflektiert das Drama die Veränderung der ehemals vornehmlich feudal-agrarischen Gesellschaftsordnung hin zu einer bürgerlich-industriellen Gesellschaft. Dieser Wandel bringt eine erhebliche psychomoralische Umwälzung mit sich, eine ‚Umwertung aller Werte‘, um mit einer Formulierung Friedrich Nietzsches zu sprechen. Das Drama stellt die sich ausdifferenzierenden unterschiedlichen bürgerlichen Milieus und die damit verbundenen Normen, Werte und Geschlechterkonstruktionen auf die Bühne und zeigt in ihren dramatischen Stoffen die daraus resultierenden Konflikte. Das Theater ist als „bürgerliche Institution“ für das 19. Jahrhundert, wie der bürgerliche Roman, ein zentraler Ort gesellschaftlicher Reflexion und Selbstbeschreibung. Das Textpaket untersucht daher die vorliegenden Texte in drei Kategorien, die keineswegs isoliert in Erscheinung treten, sondern untereinander in enger Wechselbeziehung stehen. 

Matthias Buschmeier
Hier finden Sie die eingesprochene Version des zweiten Textteils

1. Das Verhältnis von Mythos, Geschichte und Gegenwartsbezug.

Geschichte ist dabei nicht allein Stoffvorrat, an dem sich die Autoren bedienen. Im Drama des 19. Jahrhunderts wird die Erfahrung historischen Wandels als Frage nach Ziel und Sinn an den Begriff der Geschichte zurückgegeben. Ein grenzenloser Geschichtsoptimismus, der vor allem die technische Entwicklung motiviert und vorantreibt, wird im Drama mit der Offenlegung der Kontingenz von Geschichtsverläufen kontrastiert und in Frage gestellt. Übergeordnete und stabilisierende Ordnungsentwürfe, wie sie der ideologische Rahmen absolutistischer Monarchien bereitstellten, werden angesichts der aufflammenden und dann zunächst scheiternden politischen Hoffnungen des Bürgertums auf angemessene politische Repräsentation nachhaltig erschüttert. Es zeigt sich, dass unterschiedliche Geschichtsvorstellungen auch unterschiedliche Dramenkonzeptionen bedingen können.

2. Der Wandel von Bürgerlichkeit in seinen Milieus und Normen und die daraus für die Individuen entstehenden Konflikte.

Dabei wäre es verkürzt, einen Antagonismus zwischen Adel und Bürgertum überzubetonen. Denn das 19. Jahrhundert zeichnet sich vornehmlich durch eine zunehmende Öffnung und damit Vermischung der sozialen Stratifikation aus. Das Bürgertum übernimmt adlige Lebensweisen, Adlige werden bürgerliche Entrepreneure, übernehmen bürgerliche Werte und Einstellungen. Darüber hinaus differenziert sich auch das Bürgertum immer weiter bis in die Entstehung kleinbürgerlicher und proletarischer Milieus aus. Die soziale Mobilität zwischen diesen Lebenswelten erzeugt dann jene Konflikträume, in denen sich viele Figuren der Dramen des 19. Jahrhunderts bewegen – und oftmals darin untergehen.

 3. Der ästhetische Formenwandel von der klassischen Autonomieästhetik im Ausgang der „Kunstperiode“ (Heine) über die Öffnung der dramatischen Form im Vormärz, dem realistischen Versuch einer erneuten Schließung bis zum naturalistischen Entwurf eines radikal in der sozialen Gegenwart der Moderne verorteten Dramas.

Ausgangspunkt sind die Formverdichtungen der klassischen Ästhetik (Schiller: Maria Stuart) und ihre gleichsam systemimmanente Überbietung durch die Faust-Dichtung Goethes (1808/1832) mit ihrer (insbesondere im zweiten Teil) auf die Selbständigkeit der Teile setzenden Dramaturgie der „Sprünge, Würfe, Wendungen“ (Herder), die das zeitgenössische Theater ebenso überforderte wie – von ganz anderen Voraussetzungen her – Kleists Theater des Exzesses und des Exzessiven (hier vertreten durch die Hermannsschlacht), das der Grausamkeit, dem Zufälligen und der seelischen Verletzbarkeit als Weltprinzipien Raum und Sprache gibt. Eine Phase relativer Offenheit, in der verschiedene Suchbewegungen des Experimentierens einander kreuzen, schließt zunächst an diese Herausforderungen des Theaters von der Seite des Dramas her an. In ihr gewinnt die Bühne erstmals Konturen als Konstitutionsform einer performativen Öffentlichkeit und der mehr als nur mittelbaren politischen Intervention, die sich nicht allein gleichsam ‚parasitär‘ konventionalisierter Formen zu bedienen weiß (wie dies in Nestroys Revolutionsstück Freiheit in Krähwinkel mit der Posse der Fall ist), sondern auch eine neue Formsprache des Dramas im Dienst der Neuordnung des Bühnenspiels und damit auch einer Neuverteilung der Wahrnehmung erprobt. Ohne freilich damit die Bühne ihrer Zeit zu erreichen, befreien Büchner und Grabbe das Drama so aus den bindenden Traditionen der Klassik – dramaturgisch, indem sie (das gilt vor allem für Grabbe) die Möglichkeiten des Theaters im Vormärz sprengen; ästhetisch (das wiederum gilt vor allem für Büchner) durch die Eroberung neuer Gegenstände der Darstellung; ideengeschichtlich, insofern sie (und das gilt sowohl für Grabbe als auch für Büchner) mitten in einer vom Glauben an den Fortschritt und die Planbarkeit der Verhältnisse getragenen Zeit den Abgesang auf die Illusionen des Idealismus mit seinem Glauben an die Geschichte, das historische Subjekt, die Vernunft und den Fortschritt anstimmen. 

Im Vergleich dazu verlangsamt sich mit der Restabilisierung des Literatursystems im Realismus die Transformationsdynamik im Drama nach 1850 wieder. In dem Maße, in dem das Drama als Ausdruck der allgemeingültigen Gesetze des Menschlichen und vor allem der Selbsterhebung des autonomen Menschen über die Macht eines kontingenten Schicksals konzeptualisiert wird, gewinnen traditionelle Formen vorübergehend wieder an Bedeutung, bis sich das System, beginnend in etwa mit den Versuchen Ludwig Anzengrubers, mittels der Adaption der Menschen- und Milieudarstellung des realistischen Romans für die Bühne zu einem zeit- und sozialkritischen Volksdrama vorzudringen, wieder öffnet und sich die Wandlungsdynamik mit dem Siegeszug des Naturalismus erneut beschleunigt.

Der Endpunkt des Kurses wird markiert durch die sich von der Mitte der 1890er Jahre ab formierende Opposition nun wiederum gegen das naturalistische Drama im Namen der Kunst. Im Einakter und seiner Einbindung in Situationen und Ereignisse reihender zyklische Strukturen (wie in Schnitzlers Der Reigen) findet der Einspruch gegen den Bühnen-Illusionismus naturalistischer Prägung um 1900 seinen vielleicht unmittelbarsten Ausdruck. 

Matthias Buschmeier / Norbert Otto Eke