Wozu Literaturgeschichte(n)?
von Matthias Buschmeier
Der eingesprochene Text: Wozu Literaturgeschichte(n)?
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Die Frage „Wozu Literaturgeschichte(n)?“ mag zunächst befremdlich erscheinen, vor allem für unser Fach, das seine institutionelle Genese im 19. Jahrhundert als historische Wissenschaft von der (älteren) deutschen Literatur hat. Und doch ist es nicht zuletzt diese Geschichte des Faches, die Zweifel an der Unternehmung ‚Literaturgeschichte‘ hat aufkommen lassen. Denn, wie der Literaturwissenschaftler Jürgen Fohrmann (1989) gezeigt hat, waren die Literaturgeschichten der Deutschen Philologie auf das Engste mit dem Projekt ‚Nationalstaat‘ verbunden. Diese enge Verwobenheit der Literaturgeschichte mit der Genese einer philologischen Disziplin und einem politischen Projekt war für viele Jahrzehnte geradezu ein Signum von Literaturgeschichten, selbst da, wo diese jeden Seitenblick auf gesellschaftspolitische Kontexte sorgsam vermieden.
Seit den 1970er Jahren gerieten in der Literaturwissenschaft die Versuche, die Vielfalt literaturgeschichtlicher Materialien entlang nationaler Historiographien zu ordnen, in die Kritik. Aus Sicht literaturtheoretischer Positionen wie des Poststrukturalismus war das Unternehmen ‚Literaturgeschichte‘ denn auch gänzlich zur Disposition gestellt. Der deutsch-amerikanische Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht (2008) hat angesichts einer prinzipiellen Infragestellung der alteuropäischen Auffassung ‚historischer Zeit‘ vor einigen Jahren ernüchtert gefragt, ob es überhaupt noch Sinn ergebe, Literaturgeschichten zu schreiben − und an Schulen sowie Universitäten zu unterrichten (vgl. auch Buschmeier/Erhart/Kauffmann 2014, 1-7). Und in der Tat scheint es heute kaum mehr möglich, in einer literaturgeschichtlichen Darstellung die Breite der literaturhistorischen Überlieferung in ihren gesellschaftlichen, soziopolitischen und kulturellen Kontexten in Beziehung zu setzen, mit dem Versuch, die Bedeutsamkeit und das Wirkungspotential einzelner Texte oder Autor:innen zu vermitteln.
Wozu also noch Literaturgeschichte? Wozu noch eine aufwendige digitale literaturgeschichtliche Lernumgebung produzieren, wenn sich die Literaturgeschichte doch entweder theoretisch naiv stellen muss oder in die archivalische Dokumentation zerfällt, die aus enzyklopädisch strukturierten Datenbanken immer nur ein partielles ‚Retrieval‘ erleben kann?
Bevor wir uns dieser Frage mit Blick auf unsere Kursumgebung zuwenden, sei zuvor noch einmal daran erinnert, welche Funktionen und Leistungen der Literaturgeschichte ihren einst so prominenten Platz gesichert haben.
Die Kritik am nationalen Projekt der Literaturgeschichte hat zugleich das Bewusstsein dafür geschärft, dass Literaturgeschichten (wie andere historiographische Darstellungen oft auch) eine pragmatische Gattung sind, d. h. mit ihr werden jeweils bestimmte Ziele verfolgt − etwa die Entstehung eines deutschen Nationalstaates zu unterstützen.
Literaturgeschichte ist als solche ein narrativer Zusammenhang, sie folgt, wie oft in den Geisteswissenschaften, bestimmten Verknüpfungsmustern. Ästhetische Phänomene werden zum Beispiel mit gesellschaftlichen Bedingungen kausal erklärt (etwa in der marxistischen Literaturgeschichtsschreibung), oder über die Herstellung von Analogien und Assoziationen miteinander in Verbindung gesetzt. Jede (literaturgeschichtliche) Erzählung erfolgt von einem bestimmten Standort aus, d. h. sie ist perspektivgebunden. Damit ist auch dem Versuch einer irgendwie objektiviert verstandenen Literaturgeschichte als Darstellung einer Wahrheit, die keine andere neben sich duldet, eine Absage erteilt. Literaturgeschichte ist in ihrem Kern ein vielfältiges Unterfangen, so dass der Literaturhistoriker Jörg Schönert (2014) auch von den „Vielerlei Leben der Literaturgeschichte“ berichten kann. Auch und gerade in dieser Vielschichtigkeit erfüllt die Literaturgeschichte mindestens folgende Funktionen (vgl. auch Nünning 1998, 12):
- Ordnungsfunktion/Periodisierung: literarhistorische Phänomene können in eine zeitliche oder auch räumliche Ordnung gebracht werden: Epochen, Strömungen, Gattungen und Formen sind Unterbegriffe und Konstruktionen, mit deren Hilfe Strukturen in der Literaturgeschichte gebildet werden. Dabei sind literaturgeschichtliche Begriffe als wissenschaftliche Begriffe selbst keine historischen Entitäten, sondern mit einer Formulierung von Horst Steinmetz (1990, 50) „konventionalisierte Wirklichkeitsstrukturierungen“. Als Normen der disziplinären Kommunikation entlasten sie diese vom Druck permanenter Rückfragen. Zwar kann über die Auffassung, wann genau die Romantik ihren Anfang und ihr Ende nahm, wer ihr zugehörte und wer nicht, trefflich gestritten werden, aber doch wissen alle am Diskurs Beteiligten in etwa, worüber gestritten wird. Wer also den fachdisziplinären Diskussionen folgen und an ihnen partizipieren können will, muss deren Begriffsfelder kennen.
- Überlieferung: Kanonbildung/Entlastungsfunktion: die Kenntnis von historischen Texten wird an Zeitgenoss:innen und zukünftige Rezipient:innen weitergegeben. Die Überlieferung stellt zudem die Frage nach dem Objektbereich der Literatur. Was muss zu welcher Zeit als Literatur berücksichtigt werden, was nicht? Denn welche Texte wann zur ‚Literatur‘ gezählt wurden, war historisch überaus unterschiedlich, worauf der englische Literaturwissenschaftler Terry Eagleton (1983, 1-16) in seinem Text „What is literature?“ einflussreich aufmerksam gemacht hat.
- Explikative Funktion: die narrative Gestaltung von Literaturgeschichten macht es möglich, historische Phänomene und Objekte in Konstellationen miteinander zu bringen, so dass sie sich gegenseitig erhellen. Damit wird die Frage nach den Kontexten der dem näheren Objektbereich der Literatur zugeordneten Texte gestellt und in welcher Beziehung diese Literatur mit ihrer Umwelt steht. Die explikative Funktion fordert zudem, dass ein größerer, etwa epochaler literaturgeschichtlicher Erzählzusammenhang an einzelnen Texten nachvollzogen werden kann. Diese Funktion wirft die oft diskutierte Frage nach dem Verhältnis von literarischen Texten und ihren Kontexten auf. Literaturtheoretische Positionen wie der New Historicism, zu dessen wichtigsten Vertretern Stephen Greenblatt gehört, haben zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass die Möglichkeiten, von einem literarischen Text aus in das ‚Gewebe der Kultur‘ − so die Metaphorik des New Historicism − einzusteigen, prinzipiell nicht zu begrenzen sind. Wenn aber aus theoretischen Gründen eine stabile Grenze zwischen literarischen und nicht-literarischen Texten kaum mehr zu ziehen ist, dann stellt sich die Frage, wie pragmatisch damit umzugehen ist. Literaturwissenschaftler:innen laufen Gefahr, zu „second-rate-historians“ (Gallop 2007, 184) zu werden.
- Sinnstiftung und Ideologisierung: Literaturgeschichten verfolgen als pragmatische Gattung mit ihrer Darstellung Zwecke. Diese waren für die europäischen Literaturgeschichten in der Mitte des 19. Jahrhunderts, wie schon gesagt, oft die teleologische Zurichtung auf die Geschichte ihrer Nationalstaaten: in Deutschland etwa sollte die fünfbändige Literaturgeschichte des Historikers Georg Gottfried Gervinius (1835-1842) die liberal-nationalen Bestrebungen für die Bildung eines Nationalstaates befördern. Literaturgeschichten können wie andere historiographische Entwürfe einer bloß chronologischen Abfolge von Daten einen Sinn verleihen (Rüsen 2004, 365-84). Diese sinnstiftende Funktion von Geschichte(n) wurde und wird von totalitären Systemen in Anspruch genommen, um ihre Ideologie sowohl durch die Selektion als auch durch die normative Bewertung des literarischen Kanons zu verbreiten und kulturell abzusichern. Wer Literaturgeschichte betreibt, muss, sofern er oder sie das unter der Fahne der Wissenschaftlichkeit tun möchte, daher den eigenen Standpunkt, die Prämissen, von denen aus auf das Material zugegriffen wird, transparent machen. Die notwendige Pluralität von Literaturgeschichten zwingt uns zu der Frage, welche Geschichte(n) wir eigentlich erzählen wollen − eine keineswegs triviale Frage (vgl. Buschmeier 2014, 11-29). Als Dokumente einer Ideologiekritik können Literaturgeschichten vergangener Zeiten so selbst zu Quellen für historisch interessierte Forschung werden. An ihnen kann gezeigt werden, wie die sinnstiftenden Funktionen von Literaturgeschichte in einer bestimmten historischen Konstellation in eine literaturhistoriographische Praxis überführt wurden.
- Didaktische Funktion: Literaturgeschichten erleichtern durch ihre Ordnungs-, Periodisierungs- und Selektionsfunktion die Aneignung von literaturgeschichtlichem Wissen, das in Schulen und Universitäten vermittelt wird. Gerade die theoretische Infragestellung der Literaturgeschichte, wie wir sie eingangs beschrieben haben, hat auch dazu geführt, dass sie in den Curricula von philologischen Studiengängen oft als solche nicht mehr repräsentiert ist. Dies bedeutet aber nicht, dass sie dort keine Rolle mehr spielt. Vielfach wandert sie nun in die Praxis der Erschließung literaturhistorischer Materialien ein, ohne expliziert oder reflektiert zu werden. Wir erachten es daher für unabdingbar, dass Studierende der Literatur sich mit der Praxis literaturhistoriographischen Arbeitens vertraut machen, um zu kompetenten Teilnehmer:innen am disziplinären Diskurs heranzureifen.
Welche Konsequenzen ergeben sich aus diesen Überlegungen, wenn man antritt, Literaturgeschichte im digitalen Raum zu vermitteln? Aus den vorhergehenden Überlegungen ergibt sich, dass wir eine Vielzahl konkretisierender und positionierender Vorentscheidungen treffen mussten, bevor Sie als Studierende mit der eigentlichen Arbeit am literarhistorischen Material/der Literatur beginnen können. Auch unsere Kurse stehen unter den theoretischen Vorbehalten, die Sie eben kennengelernt haben − und wir haben versucht, darauf zu reagieren.
Zunächst wird Ihnen auffallen, dass, anders als Sie es vielleicht erwartet hätten, unsere Periodisierung nicht entlang der etablierten Epochenbegriffe oder der Benennung von literarischen Strömungen vorgenommen wurde. Wir haben uns entschieden, große Zeiträume zu setzen, deren Zäsuren zwar nicht völlig willkürlich sind, aber doch kein alternatives Epochenschema bedeuten sollen. In den Kursen werden Sie dennoch auch die etablierten Epochenbenennungen antreffen. Es ist wichtig, sie zu kennen und zu wissen, was damit im Fach verbunden wird (z. B. . als Normen der Kommunikation). Zugleich aber relativieren wir ihre Bedeutung, indem wir sie nicht mehr für die Strukturierung unserer Kurse in Anspruch nehmen. Wenn Sie nun die Gegenstände der Kurse selbst betrachten, werden Sie feststellen, dass mit ihnen ein nicht unerheblicher Lektüreaufwand verbunden ist. Wer Literaturgeschichte betreibt, muss notwendigerweise viel Literatur kennen. Zugleich aber werden Sie bemerken, dass Texte oder Autor:innen, die Sie vielleicht aus der Schule kennen, möglicherweise nicht repräsentiert sind. Die Arbeit von Literaturhistoriker:innen besteht vor allem darin, Selektionen vorzunehmen und auch wir mussten uns entscheiden, oft unter heftigen Diskussionen. Jede dieser Entscheidungen hätte mit guten Gründen auch anders ausfallen können. Wir möchten Sie daher auf die Kontingenz der Auswahl aufmerksam machen.
Unsere Kurse präsentieren Ihnen keine teleologische Literaturgeschichte. Wir möchten Sie einladen, sich selbst, von uns angeleitet, in das Abenteuer der literaturhistoriographischen Arbeit zu begeben. Bringen Sie die Texte miteinander ins Gespräch und probieren Sie unterschiedliche Konstellationen aus! Entdecken Sie die literaturhistorischen Narrative, die unserer Auswahl zugrunde liegen und befragen Sie diese kritisch.
Wir haben nicht nur Entscheidungen treffen müssen hinsichtlich der zu bearbeitenden Texte. Unsere Kurse zeigen Ihnen auch ganz unterschiedliche methodische Zugriffsweisen auf Literaturgeschichte. Sie finden Kurse, in denen wir einen gattungsgeschichtlichen Zugriff gewählt haben, um die Entwicklung der Gattungsformen im Wechselspiel mit poetologischen Überlegungen zeigen zu können. Andere Kurse wählen einen eher diskursiven thematischen Zuschnitt, der es ermöglicht, den sich verändernden sozialen Orten der Literatur nachzuspüren. Wieder ein anderer Kurs stellt die Frage nach den medialen Bedingungen literarischen Publizierens: Wie verändert sich das Schreiben, wenn die medialen Voraussetzungen andere werden, weil nun zum Beispiel ganz neue Publikationsmedien entstehen, die anderen Logiken folgen? Diese Vielfalt mag Sie zunächst verwirren, soll Ihnen aber bewusst machen, dass literaturhistoriographisches Arbeiten unter sehr unterschiedlichen Prämissen und methodischen Voraussetzungen erfolgen kann. Und dieser Vielfalt werden Sie auch bei der fachwissenschaftlichen Lektüre im Studium immer wieder begegnen. Darin besteht kein Nachteil, sondern es stellt gleichsam ein Signum der Philologien dar, dass Sie aus immer wieder neuen Perspektiven auf ihr Material blicken. Nur so kann verhindert werden, dass die Texte der Literaturgeschichte zu gleichsam musealen Objekten werden. Jeder literaturgeschichtliche Deutungsentwurf ist auch Arbeit an den Selbstbeschreibungen der eigenen Kultur.
Das Haus der Literaturgeschichte hat viele Zimmer, die Sie betreten können. Unsere Kurse führen Sie auf unterschiedliche Etagen und Flure, die Ihnen hoffentlich nach und nach heimisch werden. Es dürfte noch einige Räume und Kammern geben, die Sie gar selbst einrichten oder gänzlich umdekorieren könnten. Vielleicht trauen Sie sich später sogar, das Stockwerk zu wechseln, um das große Haus Literaturgeschichte noch besser kennenzulernen. Wir gehen fest davon aus, dass es eine lohnende Bekanntschaft werden könnte.