Liebe, höfische Kultur und Herrschaft

Der Kurs zu narrativen Großformen von 1100 bis 1600 lädt dazu ein, die uns vertrauten Themen von Liebe, Konflikt und Macht in doppelter Verfremdung neu zu entdecken: in der Fremdheit einer fernen Kultur und zugleich in der Verfremdung durch Literatur. Die drei Texte, Konrad Flecks „Flore und Blanscheflur“, Rudolf von Ems‘ „Willehalm von Orlens“ und Veit Warbecks „Magelone“, entfalten diese Themenkomplexe auf ganz unterschiedliche Weise.

‚Liebe‘, ‚Konfliktkultur‘ und ‚Macht‘ sowie ‚Herrschaft‘ sind keine Konzepte, die durch die Epochen und Kulturen hindurch gleich bleiben, vielmehr sind sie einem permanenten Wandel unterworfen und kulturell äußerst unterschiedlich ausgeprägt. Während wir heute z.B. ‚Liebe‘ als ein starkes Gefühl begreifen, das wir überwiegend einem ‚privaten‘ Bereich des Erlebens zuordnen, konnte ‚Liebe‘ im Mittelalter und in der beginnenden Frühen Neuzeit einerseits als spezifisch religiös begriffen werden (als ‚caritas‘); im Bereich weltlicher (höfischer) Kultur wurde Liebe dagegen als eine Kunst aufgefasst (lateinisch ‚ars‘), die Regeln folgt, beherrschbar ist und damit auch eine gesellschaftlich-kulturelle Norm darstellt. Zugleich konnte Liebe aber auch – jenseits von Wertungen – als Krankheit begriffen werden oder als eine Macht, die auf den Menschen von außen gewaltsam einwirkt und ihn ihrerseits beherrscht.

Ausschnitt einer Illustration. Zu sehen ist ein Dichter und eine Frau
Bildquelle: Universitätsbibliothek Heidelberg, Cod. Pal. germ. 848, Große Heidelberger Liederhandschrift (Codex Manesse), Zürich ca. 1300 bis ca. 1340, S. 249v, URL: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg848/0494.

Auch die Bewährung im Konflikt kennt in der mittelalterlichen Literatur verschiedene Ausprägungen, was in den vielfältigen Konstruktionen des männlichen Protagonisten zum Ausdruck kommt: So gibt es z.B. den Heros als Ausnahmekämpfer, für den keine Regeln gelten, oder den Ritter, der versucht, Gott und der Welt zu gefallen (und – wie im Artusroman – die höfische Ordnung gegen außen verteidigt), oder auch den eher passiven Protagonisten, der im Erdulden von Gefahren und Widerständen seine ‚triuwe‘ (die Beständigkeit in der wechselseitigen Bindung) als höfische Qualität unter Beweis stellt.

Das Erzählen von Macht und Herrschaft schließlich umfasst unter anderem die Begründung und Struktur von Herrschaft, Aushandlungen von Macht, Formen sozial legitimierter adeliger Gewalt und Modellierungen von Geschlechterordnungen. So verstanden, sind Liebe, Konflikt und Macht zunächst einmal mentale Konzepte und Vorstellungen, die für eine Kultur und Gesellschaft grundlegend und prägend sind, sich aber keineswegs in der jeweiligen ‚Realität‘ wiederfinden müssen; d.h., sie sind in einem ‚gesellschaftlichen Imaginären‘ angesiedelt. Greifbar werden diese Konzepte und Vorstellungsbilder für uns als Literaturwissenschaftler:innen aber in der Literatur. In mittelalterlichen höfischen Texten sind Konzepte wie Liebe, Konflikt und Macht Aspekte des übergeordneten, umfassenden Konzepts der ‚höfischen Kultur‘. Gemeint ist damit ein in dieser Zeit neues und grundlegendes Kulturmodell, das aus dem französischen Sprachraum übernommen wird; unter ‚Kulturmodell‘ wird hier eine historisch spezifische Verbindung von Orientierungswissen, Interaktionsmustern und Ausdrucksweisen verstanden. In den Texten wird das Modell höfischer Kultur programmatisch entworfen und immer wieder neu verhandelt. Auch ‚höfische Kultur‘ meint also nicht primär eine in historischen Quellen greifbare kulturelle Praxis, sondern ist selbst im ‚gesellschaftlichen Imaginären‘ angesiedelt.

Das bedeutet: Literarische Themen der Zeit wie Liebe, Konflikt und Herrschaft weichen nicht nur konzeptionell von unseren heutigen Vorstellungen stark ab. Zu dieser inhaltlichen Dimension von ‚Alterität‘, d.h. von kultureller Fremdheit, kommt vielmehr eine weitere Unterscheidung hinzu: die Unterscheidung zwischen Alltagskommunikation und literarischer Rede. Und auch Literatur und literarische Kommunikation an sich funktionieren in der Kultur des Mittelalters und der beginnenden Frühen Neuzeit ‚anders‘. So ist die Prägung des literarischen Textes durch kanonische Texte und Autoren wichtig, die als vorbildlich gelten. Das heißt jedoch gerade nicht, dass mittelalterliche und frühneuzeitliche Texte ‚weniger originell‘ sind als Texte der Moderne, sondern dass literarisches Wissen, literarische Traditionen und Vorprägungen einen höheren Rang genießen. Dazu gehören z.B. als kanonisch geltende Prätexte, Gattungsfragen, Erzählschemata, topische Motive und andere konventionalisierte Muster. Gerade das rhetorische und literarische Wissen der Antike prägt die Literaturproduktion des Mittelalters und der beginnenden Frühen Neuzeit. Ferner ist es für die Darstellungsweise und das ‚Gemachtsein‘ der Texte zentral, dass auch Literatur als erlernbare Kunst, als ‚ars‘ aufgefasst wurde, die Regeln folgt. Welche sprachlich-rhetorischen und literarischen Mittel, Techniken und Verfahrensweisen von den Verfassern eingesetzt werden, ist keine ‚Äußerlichkeit‘, sondern von zentraler Bedeutung.

Die drei Texte des Pakets stehen mit Blick auf die prägenden kulturellen Konzepte und Vorstellungen in einem Zusammenhang. Auch in gattungsgeschichtlicher Hinsicht lassen sie sich aufeinander beziehen: als Vertreter des sogenannten Minne- und Aventiureromans, einer flexiblen Gattung mit offenen Rändern. Für diese Romangattung ist ein einfaches Erzählschema konstitutiv, das aus dem spätantiken Liebes- und Reiseroman stammt: Zwei Liebende kommen zusammen, werden durch feindliche Instanzen und zufällige Ereignisse getrennt und finden sich nach zahlreichen Gefahren, Hindernissen, Prüfungen und Aventiuren zuletzt wieder. Auch Aspekte der Raumstruktur der Texte und der raumzeitlichen (chronotopischen) Ordnung des Erzählens sind gattungskonstitutiv, und nicht zuletzt die Verbindung einer Liebes- mit einer Herrschaftserzählung: Denn die zunächst illegitime (aber zugleich vorbildliche) Liebe wird zuletzt in der Herrscher-Ehe legitimiert. Das sind allerdings ganz offene Vorgaben, die sehr unterschiedliche Konkretisierungen und ein freies Spiel mit ihnen zulassen. Übergänge zu anderen erzählenden Gattungen sind nicht die Ausnahme. Im Einsatz der sprachlich-stilistischen Mittel (schon mit der Differenz zwischen Vers- und Prosaroman), in der Entfaltung der thematischen Komplexe, mit Blick auf die Entstehungsvoraussetzungen und den primären Rezipientenkreis, auch hinsichtlich der Überlieferung (Handschriften und Druck) unterscheiden sich die ausgewählten Texte deutlich. Ihre Untersuchung verspricht zahlreiche Aufschlüsse über drei große Themen der Literatur in einem spezifischen kulturellen Umfeld.

Die Begriffe ‚höfisch‘ und ‚adelig‘

Da höfische Kultur als ‚Kulturmodell‘ aufgefasst wird, wird in diesem Textpaket der Begriff ‚höfisch‘ anders verwendet als ‚adelig‘ und meint nicht dasselbe. ‚Adelig‘ definiert den sozialen (mit der Geburt gegebenen) Stand innerhalb der mittelalterlichen Ständegesellschaft, ist also eine rechtliche und soziale Kategorie (ein Adeliger ist in dieser Gesellschaftsordnung rechtlich ‚frei‘, während eine Person, die nicht adelig ist, ‚unfrei‘ ist). Dabei ist die mittelalterliche Adelsgesellschaft in sich noch stark ausdifferenziert und umfasst eine große Spannbreite sozialer Positionen.

‚Höfisch‘ dagegen ist eine kulturelle Kategorie und meint ein bestimmtes Kulturmodell. Zwar entsteht die höfische Kultur zunächst in der adligen und für die adelige Gesellschaft; doch wird sie samt ihren normativen Ordnungen und Werten über die ständischen Grenzen hinaus potentiell erweitert und erhält – innerhalb der kulturellen Elite – eine integrative Dimension. So ist die Vorstellung des ‚höfischen Ritters‘ nicht an eine bestimmte ständische Position gebunden, sondern kann gleichermaßen Unfreie, Adelige oder auch den König meinen. Zudem gibt es in der fiktiven Welt höfischer Romane Figuren wie den reichen und höfischen Kaufmann, der zwar keinen Geburtsadel hat, aber als vollendet höfisch im kulturellen Sinne dargestellt wird. Das Gleiche gilt auch für die Figur des sog. ‚höfischen Heiden‘, der ebenfalls vollendet höfisch ist, dem jedoch die Taufe fehlt; auch diesbezüglich ist das Modell höfischer Kultur innerhalb der kulturellen Elite integrativ.

Darüber hinaus entsteht höfische Literatur seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts auch in der Stadt; Träger dieser Literatur ist die städtische kulturelle Elite, zu der Adelige, Geistliche und wohlhabende Kaufleute gehören. Es handelt sich jedoch nicht um städtische Literatur mit einer eigenen soziokulturellen Prägung (man kann daher nicht von ‚bürgerlicher‘ Literatur sprechen). Vielmehr ist dies als höfische Literatur in der Stadt einzuordnen, die die Literaturproduktion und -rezeption der Adelshöfe nachahmt.

„Literarische Produktion und Rezeption in der Vormoderne“