Dramaturgie der Geschlechter

Banner Kurs Geschlechterdramen

Der folgende Kurs legt einen dramengeschichtlichen Fokus auf die zahlreichen weiblichen Hauptfiguren in Komödien und Trauerspielen des Zeitraums 1600-1800. Diese Perspektivierung möchte zunächst überhaupt die Aufmerksamkeit dafür schärfen, dass Frauen in Schauspielen seit der Frühen Neuzeit eine gewichtige Funktion einnehmen. Darüber hinaus werden in Dramen Geschlechterverhältnisse und -hierarchien in unterschiedlichen Liebes- und Machtkonstellationen performativ in Szene gesetzt und so gesellschaftlich ausgehandelt. Aber nicht nur die Dramenproduktion ist von den Geschlechterkonstellationen beeinflusst. Auch die theoretischen Reflexionen zur Dramenpoetologie dieser Zeit werden oftmals über Geschlechterbilder begründet. Affekte  wie Furcht, Schrecken, Mitleid, Lachen, Weinen, Staunen, Bewunderung und ihre Steuerung werden in Theorie und Praxis über geschlechter-codierte Attribuierungen dargestellt und mit dem spezifischen Affizierungspotential verbunden, das der dramatischen Gattung durch die Vergegenwärtigung der Leidenschaften im Bühnengeschehen zugeschrieben wurde.

Veränderung des Interesses an den Affekten

Der Kursus ist schwerpunktmäßig um den Zusammenhang von Affektpoetologie und der Verhandlung von Geschlechterkonstellationen in ausgewählten Dramen zwischen 1600-1800 zentriert. Ziel ist es, ein Bewusstsein für die (hetero)normative Autorität durch Affektpräsentation/-zuschreibung auf dem Theater zu schaffen. Anhand von dramenpoetologischen Texten, Komödien und Trauerspielen aus dem behandelten Zeitraum lassen sich Einsichten in die Verschaltung von Affektpoetologie als Gattungspoetologie gewinnen.

Der vieldeutige Genitiv der aristotelischen Poetik, die „Katharsis der Affekte“, bildet den Ausgangspunkt für eine Jahrhunderte andauernde Reflexion und Diskussion über Beschaffenheit, Organisation und Funktion der Affekte des Menschen. Aristoteles behandelt die Affekte ‚éleos‘ (Jammer/Rührung) und ‚phóbos‘ (Schrecken/Schauder) im Zuge seiner Überlegungen zum Wirkungszusammenhang von Kunst und seiner Tragödiendefinition. Die Tragödie als Mimesis (Nachahmung) einer sittlich ernsten und in sich geschlossenen Handlung werde durch handelnde Personen vorgeführt und führe durch Erregung der o.g. Affekte zur Katharsis (Reinigung) (Poetik 1961, 1447a-1462b). Zur Debatte steht in der Folge, ob Aristoteles auf eine Reinigung durch Affekte oder von diesen Affekten zielte oder ob diese Affekte selbst gereinigt werden sollten. Letztere Ansicht vertraten beispielsweise Martin Opitz in seiner „Vorrede zur Übersetzung von Senecas ‚Trojanerinnen‘“ (1625) und auch Johann Christoph Gottsched in seiner „Critischen Dichtkunst“ (1740). Einen Höhepunkt der Affektdiskussion bildet der „Briefwechsel über das Trauerspiel“ (1756/57) zwischen Moses Mendelssohn, Friedrich Nicolai und Gotthold Ephraim Lessing, der u.a. auf Lessings umstrittener Übersetzung der aristotelischen Affekte ‚éleos‘ und ‚phóbos‘ als Furcht und Mitleid basiert.

Die Affizierung des Publikums bildet auch eine der drei klassischen Überzeugungsmittel der Rede in den Lehren der Rhetorik. Diese stellen normative Affektkataloge zur Unterscheidung und Typisierung der Leidenschaften bereit, denen bestimmte Redestile zugewiesen werden. In der Ästhetik der Neuzeit werden auf dieser Grundlage umfassende Theorien der Affekte ausgearbeitet, die nicht zuletzt eng mit jenen medizinischen und anthropologischen Diskursen und Erkenntnissen der jeweiligen Zeit verknüpft werden, die sich mit der Entstehung der menschlichen Leidenschaften als körperliche und seelische Prozesse und Ausdrucksformen befassen (vgl. Kaminskij 2019, S. 321).

Gegen Ende des 16. Jahrhunderts und vor allem im Laufe des 17. Jahrhunderts verändert sich das Interesse an Themen wie Lachen, Weinen, Erröten, Erblassen (u.a.) als Manifestationen des halb Verborgenen im Menschen. Sie stehen im Umfeld einer an den Körper anschließenden Darstellbarkeit des Menschen und werden zu zentralen Themen seiner Kenntlichkeit (vgl. Campe 1990, S. X). Diskussionen über Affektlehren werden im Zuge des 17. und 18. Jahrhunderts auf der Basis prinzipieller theoretischer Reflexionen über Ziel, Zweck und Wesen der Kunst zu einem ständig wiederkehrenden Gegenstand ästhetischer, philosophischer und anthropologischer Überlegungen. Sie treten in ihrer Bedeutung neben Erörterungen des Mimesis-Prinzips und der Geschmacksbegriffe. Die Gattung des Dramas scheint inszenatorisch durch die Ausrichtung auf die körperliche Präsenz der Schauspieler:innen und deren verschiedenen Weisen der mimisch-gestischen Repräsentation der Dramentexte prädestiniert für die artifizielle Erprobung von Affekterzeugung und ihren Wirkungsmöglichkeiten. Hierfür sind die Nebentexte innerhalb der Dramen besonders aufschlussreich; denn in ihnen werden Affektdurchbrüche oder ihre Unterdrückung häufig explizit benannt oder typische Affektgesten vorgegeben, wie z.B. der Griff ans Herz oder das Augen-Wischen, das Ergreifen der Hand des Anderen oder auch das Sich-Losreißen vom Gegenüber, aber auch Versuche des Affektverbergens finden Ausdruck, z.B. durch Abwendung von der Dialogpartnerin oder vom Dialogpartner. Und auch die Sprache der Figuren selbst kann Aufschluss über ihre affektive Gestimmtheit geben, wie sich nicht nur, aber am offensichtlichsten in verwunderten oder seufzenden Ausrufen zeigt. Bezieht man all diese Elemente in die Analyse der Dramen ein, so lassen sich vielgestaltige Formen der Affektrepräsentation entdecken und ihre geschlechterspezifischen Zuschreibungen erkunden.

Bei der Fokussierung auf Affekte handelt es sich letztlich um die Zugänglichkeit des Menschen in einem genauen Augenblick des Lebens, jenem zeitlich mehr oder minder eng begrenzten Moment nämlich, in dem der flüchtige Affekt sichtbar wird. Affekt- und Katharsistheorien unternehmen den Versuch, diese Augenblicke als Wirkungsprinzipien in die Dramatik einzuschreiben und gezielt herbeizuführen. Die Intention der Reinigung der Affekte, von den Affekten oder durch Affekte soll den Augenblick ihres Aufwallens dauerhafter moralisch nutzbar machen und damit dem Theater eine neue gesellschaftlich aufgewertete Relevanz im Sinne einer Bildungsinstanz und Sittenschule verleihen.

Gegenwartsbezug

Im Zuge der angedeuteten Entwicklung gewann das bürgerliche Geschlechtermodell zunehmend an Bedeutung. Unter dem sich im 18. Jahrhundert herausbildenden Begriff des „Geschlechtscharakters“ sollte die Natur oder das Wesen der Geschlechter erfasst werden (vgl. Hausen 1976, S. 363).

Das Differenzmodell (Zwei-Geschlechter-Modell) der bürgerlichen Moderne führte zur Engführung von Weiblichkeit und Emotionalität und damit zugleich zur Ausgrenzung des als empfindsam verstandenen Parts der Geschlechter aus dem Bereich der Rationalität (vgl. Schößler 2008, S. 27). Nicht mehr die gesellschaftlich, d.i. ständisch organisierte Rolle sozialen Handelns vorbürgerlicher Geschlechterkonstellationen definierte das Geschlecht, sondern physische Differenz, die mit den psychischen Geschlechtsmerkmalen korrespondierend gedacht wurde (vgl. Hausen 1976, S. 363). Die auf den Körper fokussierte binäre Ausstattungstypologie wurde zur Beschneidung weiblicher Entfaltungsmöglichkeiten und zum Ausschluss der Frauen aus den gesellschaftspolitisch relevanten Systemen, aus dem öffentlichen Bereich und bestimmten Wissensfeldern genutzt (vgl. Schößler 2008, S. 28). Diese Entwicklung im Prozess der Anthropologisierung des Menschen, in der die sich um 1800 etablierenden Naturwissenschaften eine entscheidende Rolle spielten, wurde jedoch von vielfältigen Diskussionen über die Emanzipation der Frauen begleitet, bevor die rationale Unterlegenheit der Frau unter dem Einfluss der Erkenntnisse der Biologie im 19. Jahrhundert zum Naturgesetz erhoben wurde.

Auch wenn das bürgerliche Geschlechtermodell und die mit ihm verbundenen sozialen Rollenvorstellungen seit den Emanzipationsbewegungen der 1960er Jahre zunehmend aufweicht, haben seit den 1990er Jahren insbesondere die Beschäftigungen mit Affektivität im Zuge des ‚affective turns‘ in den Kultur- und Sozialwissenschaften zu Reflexionen darüber geführt, dass „Affektivität selbst ein Register von ‚Machtwirkung‘ sein kann, in dem sich neue hegemoniale Strukturen stabilisieren, oder neue, unterschwellige Machtmechanismen ausbilden können“ (Mühlhoff 2018, S. 18). Dies hat erneut gezeigt, dass Affektivität und die Frage nach den Möglichkeiten ihrer Erzeugung auch und gerade in den medial durchstrukturierten Gesellschaften der Gegenwart eine nicht zu unterschätzende macht- und erfolgsstrategische Bedeutung zukommt. Strittig bleibt dabei weiterhin, inwiefern Affektivität als eine vorbewusste und prä-verbale Größe zu betrachten sei, was noch immer zu unterschiedlichen Theorien über Wirkungsvollzüge führt.