Gotthold Ephraim Lessing: „Miß Sara Sampson“
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Im Jahr 1755 wird das Drama „Miß Sara Sampson“ neben anderen Schriften Lessings gedruckt und am 10. Juli in Frankfurt an der Oder uraufgeführt (vgl. Fick 2016, S. 133). Das Stück trägt den Untertitel „Ein bürgerliches Trauerspiel in fünf Aufzügen“, womit Lessing den Anstoß für eine neue dramatische Gattung in Deutschland gibt (vgl. Guthke 2006, S. 7).
In unterschiedlichen Lexika, wie beispielsweise dem „Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft“, wird herausgestellt, dass diese neue Gattung mit der Ständeklausel und der sogenannten ‚Drei-Einheiten-Lehre‘ breche. Des Weiteren sprächen die Figuren nicht mehr in streng metrisierten Versen und seien Teil einer bürgerlichen Welt. Damit stellten sich die Autor:innen bürgerlicher Trauerspiele hauptsächlich gegen die vorherrschende französische Tradition klassizistischer Dramen, die auch maßgeblich für das dramatische Werk und die Regelpoetik Johann Christoph Gottscheds waren (vgl. Eibl 2003, S. 286). Diese Zuschreibungen von Form und Inhalt bürgerlicher Trauerspiele kann aber durchaus problematisiert werden: Beispielsweise deuten die Titel einiger Figuren im Stück – „Miß“ und „Sir“ – darauf hin, dass sowohl Sara als auch ihr Vater dem englischen (Land-)adel angehören. Das Attribut ‚bürgerlich‘ in der Gattungsbezeichnung bezieht sich daher keineswegs notwendig auf den Stand der Figuren.
Dennoch stellt Lessing mit „Miß Sara Sampson“ insofern die Krise einer ‚bürgerlichen‘ Familie in den Mittelpunkt, als nicht mehr öffentliche oder staatlich-politische Angelegenheiten und Konflikte im Vordergrund stehen, wie oft noch im klassizistischen Barockdrama. In „Miß Sara Sampson“ ist der Konflikt zwischen Vater und Tochter zentral, anhand dessen das Scheitern und zugleich Gelingen einer ‚bürgerlichen‘ Ordnung exemplifiziert wird. Die Handlung ist häufig zum Scheitern verurteilt, weil der Kontrast zwischen häuslicher Privatheit und öffentlicher Repräsentationspflicht, die mit bestimmten Ehrbegriffen einhergeht, schwer zu vereinen ist. Des Weiteren wird die ‚bürgerliche‘ Familie zu einer Gefühlsgemeinschaft, in der besonders die Frau Trägerin einer ‚unschuldigen Tugend‘ wird (vgl. Brenner 2011, S. 76-77 und Greif 2013, S. 104-105).
Auch wenn dies nur eine mögliche Interpretationsweise des Bürgerlichen im bürgerlichen Trauerspiel ist, so weist sie auf einen wichtigen Aspekt der Gattung hin: Nicht allein die Familie bildet eine ‚Gefühlsgemeinschaft‘, sondern diese wird auch auf die Rezipient:innen erweitert (vgl. Viering 2007, S. 440). Der Erzeugung von Mitleid als Affekt kommt hier eine zentrale Bedeutung zu, wie u.a. auch die Reaktion des Publikums bei der Uraufführung vermuten lässt. Lessings Freund und Dichter Karl Wilhelm Ramler schreibt: „Herr Leßing hat seine Tragödie in Franckfurt spielen sehen und die Zuschauer haben drey und eine halbe Stunde zugehört, stille geseßen wie Statüen, und geweint“ (Ramler 1971, S. 88). Hinter dieser Reaktion, die Lessing – folgen wir seinen theoretischen Überlegungen – höchstwahrscheinlich intendiert hat, steht sein genuin poetologisches Verständnis von Mitleid: In seiner „Hamburgischen Dramaturgie“ formuliert er eine Neuperspektivierung der aristotelischen Katharsis-Lehre. Für Lessing trägt die Katharsis in der Tragödie zur moralischen Besserung der Zuschauerschaft bei. Die Affekte Jammer (‚eleos‘) und Schauder (‚phobos‘) – bei Lessing Mitleid (mit der Figur) und Furcht (als auf sich selbst bezogenes Mitleid) – ermöglichten es, ein moralisches Gefühl bei den Rezipient:innen zu erzeugen (vgl. Zelle 2007, S. 160-163). Je stärker und öfter die Rezipient:innen ein solches moralisches Gefühl in sich wahrnehmen, desto mehr disponiert es sie, dies auch jenseits des theatralen Raumes zu spüren und entsprechende Handlungen daraus folgen zu lassen. Insbesondere das Schicksal Saras dient hier der Erzeugung von Mitleid. Oftmals sind es Frauenfiguren im bürgerlichen Trauerspiel, die zum Dreh- und Angelpunkt der mitleidserregenden Handlung werden und damit für eine genderorientierte Analyse besonders aufschlussreich sind.
Textgrundlage:
Gotthold Ephraim Lessing: Miss Sara Sampson, hg. v. Wolfgang Keul, Stuttgart: Reclam 2020.
Bürgerliches Trauerspiel
Im Erstdruck 1755 trägt das Stück „Miß Sara Sampson“ noch den Untertitel „Ein bürgerliches Trauerspiel in fünf Aufzügen“. Erst im Jahr 1772 erscheint ein Neudruck des Dramas, in dem das Adjektiv ‚bürgerlich‘ fehlt. Wie Sie dem Theaterzettel (s. Abbildung) entnehmen können, konnte der Untertitel bei Inszenierungen (hier vermutlich in Rostock, 1777) auch angepasst werden, um die Neugier des Publikums auf das Stück zu steigern.
Theaterzettel zur einer Aufführung
von Lessings „Miss Sara Sampson“ am 21. März 1777
(CC BY-NC-SA von der Theatergeschichtliche Sammlung und
Hebbelsammlung)
Bitte informieren Sie sich über die Gattung des bürgerlichen Trauerspiels im „Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft“.
Lesen Sie vor diesem Hintergrund nun das Stück „Miß Sara Sampson“.
Lektüreleitfragen
- Wie ist die Personenkonstellation? Welchen Stand haben die Personen? Ihnen kann dabei das „Figurenlexikon“ Hilfestellung geben.
- An welchem Ort/welchen Orten findet die Handlung statt? Welche Lebenswelten treffen aufeinander? Wie wird der tragische Konflikt exponiert? Wie entwickelt er sich und wie wird er gelöst?
„Miß Sara Sampson“ und das bürgerliche Trauerspiel
Diskutieren Sie in der Gruppe, inwiefern es sich bei „Miß Sara Sampson“ um ein bürgerliches Trauerspiel handelt.
In Lessings Tragödienkonzeption nimmt der Begriff des Mitleids eine zentrale Stellung ein. Um zu verstehen, welche Funktion Lessing dem Affekt Mitleid zuweist, lesen Sie folgende exemplarische Quellenauszüge
- (a) Lessings Brief an Christoph Friedrich Nicolai vom November 1756 (Lessing 2003, S. 668-673)
- (b) das 78. Stück aus der „Hamburgischen Dramaturgie“.
‚Verbesserung‘ des Menschen
Diskutieren Sie in der Gruppe anhand der Quellenauszüge, wie nach Lessings Vorstellung die Tragödie den Menschen bessern können soll. Folgende Fragen können Ihnen Orientierung bieten:
- Was versteht Lessing unter den Begriffen Schrecken, Mitleid und Bewunderung? Warum ist „[d]er mitleidigste Mensch […] der beste Mensch“?
- Wie interpretiert Lessing Aristoteles‘ Gedanken zu Jammer („eleos“) und Schauder („phobos“)?
- Wie grenzt er sich von dem französischen Dramatiker Pierre Corneille ab?
- Wer empfindet Mitleid und Furcht in der Tragödie?
- Wie können Mitleid und Furcht im Drama erzeugt werden?
- In welchem Verhältnis steht die aristotelische Vorstellung von der tragischen Katharsis zu Lessings Mitleidskonzeption?
- Wie kann Mitleid in eine Tugend ‚verwandelt‘ werden?
Mitleidserzeugung bei „Miß Sara Sampson“
Der Gelehrte und Dichter Karl Wilhelm Ramler, Lessing freundschaftlich verbunden, war bei der Uraufführung des Stückes am 10. Juli 1755 zugegen und beschreibt die Wirkung auf das zeitgenössische Publikum wie folgt: „[D]ie Zuschauer haben drey und eine halbe Stunde zugehört, stille geseßen wie Statüen, und geweint.“ (vgl. Ramler 1971, S. 88). Die Handlung des Stückes und die Bühneninszenierung scheinen also eine affektive Wirkung erzielt zu haben.
Diskutieren Sie in der Gruppe, inwiefern die von den Figuren im Stück durchlebten Affekte darin konzeptionell (im Sinne von Lessings Mitleidsästhetik) angelegt sind.
Folgende Fragen können Ihnen Orientierung bieten:
- Nebentext: Wie oft wird in dem Stück selbst geweint?
- Sprachgebrauch: Trägt die Sprache dazu bei, Mitleid zu erzeugen (achten Sie hier insbesondere auf Satzzeichen)?
- Figurencharakterisierung: Auf welche Weise ist der Charakter Saras auf Mitleidserzeugung hin angelegt? Gibt es ‚typische‘ weibliche Attribute, die Mitleid erzeugen (Vergleich: Sara und Mellefont)?
- Handlungsführung: Wie entwickelt sich der tragische Konflikt im Zuge der Handlung?
über Physiognomie aus dem 19. Jh.;
links: „Äußerste Verzweiflung“ und
rechts: „Zorn mit Furcht vermischt“
(Public Domain)
Zorn und Mitleid nach Aristoteles
Lessings Mitleidsästhetik beruht nicht allein auf der „Poetik“ des Aristoteles, eine andere wichtige Quelle für die Rezeption der Affektenlehre ist das zweite Kapitel des zweiten Buches der aristotelischen „Rhetorik“. Bedeutsam in unserem Zusammenhang sind vor allem die Ausführungen zu den Affekten Zorn und Mitleid.
Zum Affekt Zorn schreibt er in Kapitel 2 des 2. Buches:
- „Zorn ist also (definiert als) ein von Schmerz begleitetes Trachten nach offenkundiger Vergeltung wegen offenkundig erfolgter Geringschätzung, die uns selbst oder einem der Unsrigen von Leuten, denen dies nicht zusteht, zugefügt wurde. Ist das also Zorn, dann zürnt notwendigerweise der Zürnende immer einer individuell bestimmbaren Person, […] und mit dem Zorn geht notwendigerweise eine gewisse Lust einher, die der Hoffnung auf Vergeltung entspringt.“ (Aristoteles 2019, S. 79-80)
Zum Affekt Mitleid schreibt er in Kapitel 8 des 2. Buches:
- „Mitleid sei definiert als eine Art Schmerz über eine anscheinend verderbliche und leidbringende Not, die jemanden, der es nicht verdient, trifft, ein Übel, das erwartungsgemäß auch und selbst oder einen der Unsrigen treffen könnte, und das ist besonders der Fall, wenn dieses nahe zu sein scheint.“ (Aristoteles 2019, S. 103)
Beziehen Sie die Zitate nun auf den 8. Aufzug des Stückes. Fragen Sie sich, was Marwood dazu bringt, Sara zu vergiften. Ist Sara im Sinne des Aristoteles eine mitleiderregende Figur? Warum?