Heinrich Leopold Wagner: „Die Kindermörderin“
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Den allesamt jungen Dramatikern, die in Literaturgeschichten dem Sturm und Drang zugerechnet werden, ging es vor allem um die Darstellung von Leidenschaften. Deren hemmungs- und kompromissloses Ausleben bewunderten sie jedoch nicht ohne Vorbehalte. In ihren Dramen stellen sie vor allem die zerstörerischen Wirkungen einer die Affektkontrolle aufhebenden Leidenschaftlichkeit dar, wobei sie „die Reichweite und die Konsequenzen des Gefühls- und Leidenschaftsevangeliums gleichsam experimentell ausprobieren“ (Sørensen 2003, S. 218f.). Dieses Vorhaben spiegelt sich auch in der Form wider: Fast alle Dramen des Sturm und Drang gehören zu den atektonischen Dramen der offenen Form. Typischerweise ist ihr Aufbau sprunghaft und kommt ohne die Wahrung der drei Aristotelischen Einheiten aus. Die Stoffe waren häufig aus dem ‚wirklichen Leben‘ gegriffen, d.h. sie nahmen rechtliche, soziologische, ökonomische oder politische Themen der Zeit auf, kleideten sie aber zuweilen ins historische Gewand wie z.B. im Johann Wolfgang Goethes „Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand“ (1773).
Heinrich Leopold Wagners Trauerspiel „Die Kindermörderin“ (1776) liegt der Straßburger Rechtsfall der Maria Sophia Leypold zugrunde, für den sich auch Goethe interessierte. Sie wurde Mitte 1775 des Kindsmords angeklagt und zum Tod durch das Schwert verurteilt. Jan Matthias Rameckers mutmaßt, dass es sich jedoch um eine Totgeburt gehandelt haben muss, da die 22-Jährige im Januar 1776 durch Ludwig XVI. begnadigt und zu lebenslanger Haft verurteilt, schließlich am 14. August 1788 freigelassen wurde. Für Rameckers lässt dies den Schluss zu, dass „schwerwiegende mildernde Umstände vorgelegen haben müssen, durch die das Todesurteil dann umso schrecklicher erscheinen mußte“ (Rameckers 1927, S. 143f.).
Betrachtet man die Dichtungen der Stürmer und Dränger, so ist das Motiv des Kindsmords eines der gängigsten. U.a. Gottfried August Bürger, Jakob Michael Reinhold Lenz, Maler Müller und später Friedrich Schiller behandeln es in ihren Werken. Doch allein Heinrich Leopold Wagner hat es auf die offene Bühne gebracht. Denn wenn auch in Johann Wolfgang Goethes „Urfaust“ die Blutspur von Gretchens Kindsmord bis in den Kerker führt, so wird die vorangegangene Tat erst in der Verdichtung zum halluzinatorischen Bild rekonstruiert.
Im vierzehnten Buch des dritten Teils von „Dichtung und Wahrheit“ schreibt Goethe über Heinrich Leopold Wagner: „Vorübergehend will ich nur, der Folge wegen, noch eines guten Gesellen gedenken, der, obgleich von keinen außerordentlichen Gaben, doch auch mitzählte. Er hieß Wagner, erst ein Glied der Straßburger, dann der Frankfurter Gesellschaft; nicht ohne Geist, Talent und Unterricht. Er zeigte sich als ein Strebender, und so war er willkommen. Auch hielt er treulich an mir, und weil ich aus allem was ich vorhatte kein Geheimnis machte, so erzählte ich ihm wie andern meine Absicht mit Faust, besonders die Katastrophe von Gretchen. Er faßte das Sujet auf, und benutzte es für ein Trauerspiel, Die Kindesmörderin. Es war das erste Mal, daß mir jemand etwas von meinen Vorsätzen wegschnappte; es verdroß mich, ohne daß ich’s ihm nachgetragen hätte. Ich hatte dergleichen Gedankenraub und Vorwegnahme nachher noch oft genug erlebt und hatte mich, bei meinem Zaudern und Beschwätzen so manches Vorgesetzten und Eingebildeten, nicht mit Recht zu beschweren.“ (Goethe 1962, S. 146f.)
Goethe fasst im angeführten Zitat ein Thema als sein geistiges Eigentum auf, das zeitgenössisch in vielen Bereichen, u.a. in juristischen, medizinischen, philosophischen, kriminologischen, theologischen und literarischen Auseinandersetzungen heftig diskutiert wurde. Goethe selbst hatte in seiner juristischen Disputation 1771 in Straßburg in seinen vorgetragenen 56 Thesen „Positiones Juris“ in lateinischer Sprache u.a. auch zur Todesstrafe bejahend Stellung bezogen, sich aber im Falle des Kindsmords mit dem Hinweis auf die Strittigkeit dieser Frage unter den Gelehrten begnügt (vgl. Schubart-Fikentscher 1949).
Vielfach wurde gemutmaßt, dass Goethes Einschätzung der mangelnden „Gaben“ Wagners sowie der Plagiatsvorwurf die harschen Urteile mitbedingten, die sich in den Literaturgeschichten des 19. Jahrhunderts über Wagners Stück „Die Kindsmörderin“ und nicht selten auch in jüngeren Literaturgeschichten des 20. Jahrhunderts finden. Georg Gottfried Gervinus meinte, es sei „ein Stück voll entsetzender Gemeinheit und Rohheit“ (Gervinus 1853: Bd. 4, S. 535). Für Hermann Hettner ist es ebenfalls, „von unsäglicher Rohheit und Geschmacklosigkeit […] alles ist auf den gemeinsten und widerwärtigsten Boden übertragen“ (Hettner 1894, S. 234). Und Eduard Engel sieht in Wagners Behandlung des Kindermöderinnen-Stoffes einen „derbe[n] Griff in die Wirklichkeit hinein“ (Engel 1904: Bd. 1, S. 467). Doch diese Einschätzungen mögen auch durch die zahlreichen Regelbrüche und Tabuverletzungen in Wagners Stück bedingt sein: Wagners Inszenierung des Kindsmords auf offener Bühne zählt – wie bereits die Wahl eines Bordells als Schauplatz für den ersten Akt sowie das kaum verhüllte „[i]nnwendig[e] Getös“ der Verführungsszene – zu jenen drastischen Verstößen gegen den sogenannten ‚guten Geschmack‘, die eine Aufführung des Stücks lange verhinderten. Stattdessen liest Wagner am 18. Juli 1776 in der „Deutschen Gesellschaft“ aus seiner „Kindermörderin“, wie es das Protokoll der Straßburger Tischgesellschaft vermerkt (vgl. Lepper/Steitz/Benn u.a. 1983, S. 255). Die deutsche Erstaufführung der Originalfassung findet erst 125 Jahre später, 1904, in Berlin statt.
Textgrundlage:
Heinrich Leopold Wagner: Die Kindermörderin. Ein Trauerspiel, hg. v. Jörg-Ulrich Fechner, Stuttgart: Reclam 2010.
Lektüreleitfragen
- Im „Ersten Akt“ wird zum ersten Mal Frau Humbrechts Tabaksdose erwähnt: Achten Sie bei der Lektüre darauf, welche Wege die Tabaksdose im Stück nimmt und wie sie mit den Themen Ehe und (Un-)Keuschheit zusammenhängt. Wie steht ihr Verlust und Fund in Verbindung zur Handlung und zur katastrophischen Entwicklung?
- Welche Argumente werden von Frau und Herrn Humbrecht im „Zweiten Akt“ für und gegen den Ball angeführt? Welche Funktion kommt diesen Argumenten im Stück angesichts der Ereignisse im „Ersten Akt“ zu? Welches Familienmodell wird dadurch transportiert, d.h. welche Rollen und welche Eigenschaften werden dem Vater und der Mutter in Wagners Stück zugeschrieben?
- Welche Weiblichkeitsbilder werden einander im „Dritten Akt“ im Gespräch zwischen Leutnant von Hasenpoth und Leutnant von Gröningseck gegenübergestellt? Achten Sie bei der Lektüre auf die entsprechenden Zuschreibungen.
- „[L]ieber das Leben als die Ehre verloren. – Das Schavott macht nicht unehrlich, sondern das Verbrechen, und ein Verbrechen, wozu man gezwungen wird, ist kein Verbrechen mehr.“ Diese Aussage des Majors im „Dritten Akt“ fällt im Zuge der Frage nach dem Verhältnis von Ehre, Gesetz und Verbrechen aus militärischer Sicht im Zusammenhang mit dem Königlichen Duellierverbot. Lesen Sie diese Szene als Spiegelszene für Evchens Status als „Verbrecherin“ und machen Sie sich die unterschiedlichen Begründungszusammenhänge um männliche und weibliche Ehrbegriffe deutlich. Denken Sie hierbei an die Ausführungen zu Tugend und Ehre durch Herrn Humbrecht am Ende des „Zweiten Akts“. Welche Konsequenzen ergäben sich aus dem männlichen Ehrbegriff für die Bewertung von Evchens Situation?
- Das Grimm’schen Wörterbuch definiert die „Kindermörderin“ als „mörderin des eignen, neugebornen kindes“. Überlegen Sie, ob oder inwiefern es in Wagners „Die Kindermörderin“ in diesem Sinne zu einem Kindsmord kommt.
Kindsmörderinnen
Darstellungen von Kindsmörderinnen werden traditionell mit dem Teufel versehen.
Sehen Sie sich gemeinsam in der Gruppe die folgende Darstellung aus der Wickiana, einer illustierten Nachrichtensammlung aus dem 16. Jahrhundert, an.
In: Wolfgang Schild:
Folter, Pranger, Scheiterhaufen.
Rechtsprechung im Mittelalter, München:
Bassermann 2010, S. 45. (public domain)
Beachten Sie bei der Lektüre von Wagners „Die Kindermörderin“ die Häufung von Wendungen, die den Teufel „anrufen“.
- Welche Figuren verwenden derartige Wendungen in welchen Situationen und mit Bezug auf welche anderen Figuren/Situationen des Stücks? Tragen Sie in einem Gruppengespräch die von ihnen identifizierten Passagen zusammen und überlegen Sie gemeinsam:
- Inwiefern lässt sich an diesem Beispiel eine geschlechterspezifische Sprache identifizieren?
16 Gesichter der menschlichen Leidenschaften,
kolorierter Kupferstich, 1821
Der Sturm und Drang und die Sprache der Affekte
Die Werke des Sturm und Drang sind vor allem dadurch bestimmt, dass ihre Verfasser Gefühle und Leidenschaften unmittelbar auszusprechen suchten.
Die Liste der Affekte war historisch variabel. Aristoteles charakterisiert elf Affekte: Begierde, Zorn, Furcht, Mut, Neid, Freude, Liebe, Hass, Sehnsucht, Eifersucht und Mitleid. Überlegen Sie, wie diese und weitere Affekte in Wagners Stück repräsentiert sind.
- Wählen Sie sich aus Ihrer Liste drei Affekte und betrachten sie die Darstellung und Erscheinungsweise dieser Affekte genauer.
- Treffen einzelne Affekte auf bestimmte Figuren vermehrt zu? Lassen sich somit verstärkt „weibliche“ bzw. „männliche“ Affekte ausmachen?
Geschlechtlich markierte Lektüreszenen geben Anlass zu der Frage, auf welche Weisen sich historisch Lektüreformen und -praktiken geschlechterspezifisch gestalten bzw. als geschlechterspezifisch gestaltet dargestellt werden.
Lektürepräferenzen und Lesepraktiken im 18. Jahrhundert
Lesen Sie nun den folgenden Text von Ursula A. J. Becher aus der Sekundärliteratur, die in ihrem Artikel die „Lektürepräferenzen und Lesepraktiken von Frauen im 18. Jahrhundert“ in ihren sozial, gesellschaftlich und zwischenmenschlich bedingten Abhängigkeitsverhältnissen aus einer breit angelegten Perspektive in den Blick nimmt und mit historischen Quellen beleuchtet.
Lektüreszenen
- Betrachten Sie nun die beiden Lektüreszenen in Wagners Stück.
- Welche emotionale Reaktion zeigt Evchen im ersten Akt als Folge der Verführung durch Gröningseck?
- Achten Sie vor diesem Hintergrund darauf, welche Rolle der weiblichen Lektüre mit Blick auf die Verführungsszene in Wagners Stück zugewiesen wird. Reflektieren Sie die Verschiedenheit der Positionen von Gröningseck und Evchen im ersten Akt.
Evchens Romanlektüre
Diskutieren Sie gemeinsam in der Gruppe:
- Wie bewertet Gröningseck Evchens Romanlektüre?
- Zu welchem Zweck hat Evchen nach eigenen Angaben gelesen?
Der dritte Akt
Gehen Sie von hier aus weiter zum dritten Akt von Wagners „Die Kindermörderin“.
- Vergegenwärtigen Sie sich, wer in der vorliegenden Passage über wen spricht.
- Was ist Gegenstand der Lektüre?
Hören Sie sich den folgenden Podcast zur Einführung in Edward Youngs Lehrgedicht „The Complaint“ (dt. „Nachtgedanken“) und seiner Rezeption im 18. Jahrhundert sowie im Umfeld des Sturm und Drang an.
Lesen Sie nun die folgenden Auszüge aus Youngs „Nachtgedanken“.
Überlegen Sie gemeinsam, ob es mit Blick auf den Text von Young und die Bewertung bei Wagner Unterschiede gibt. Arbeiten Sie die Unterschiede in der Argumentation und Bewertung heraus. Bedenken Sie dabei, dass wir von Evchens Melancholie im dritten Akt von Wagners Stück ausschließlich aus männlichen Perspektiven (Magister, Gröningseck, v. Hasenpoth) erfahren.
- Über den zeitgenössischen Gebrauch der Begriffe „Schwermuth, Schwermüthigkeit, Melancholey“ informiert Sie der Eintrag in Zedlers Universallexikon.
- Detailliertere Informationen über die Diskussion um das Verhältnis von „Melancholie und Aufklärung“ erhalten Sie in der gleichnamigen Studie von Hans-Jürgen Schings.
Überlegen Sie gemeinsam, ob es mit Blick auf den Text von Young und die Bewertung bei Wagner Unterschiede gibt. Arbeiten Sie die Unterschiede in der Argumentation und Bewertung heraus. Bedenken Sie dabei, dass wir von Evchens Melancholie im dritten Akt von Wagners Stück ausschließlich aus männlichen Perspektiven (Magister, Gröningseck, v. Hasenpoth) erfahren.
- Über den zeitgenössischen Gebrauch der Begriffe „Schwermuth, Schwermüthigkeit, Melancholey“ informiert Sie der Eintrag in Zedlers Universallexikon.
- Detailliertere Informationen über die Diskussion um das Verhältnis von „Melancholie und Aufklärung“ erhalten Sie in der gleichnamigen Studie von Hans-Jürgen Schings.
Erst im vierten Akt werden Anzeichen von Evchens Melancholie auf der Ebene des Bühnengeschehens sichtbar. Woran erkennt der Zuschauer diese?
Für die Beantwortung dieser Frage kann ein Rückgriff auf die Rubriken 2.6. „Gesten der Affekte“ und 2.7. „Sprache der Affekte“ hilfreich sein.
Evchens Kindsmord
Betrachten Sie nun die Szene von Evchens Kindsmord genauer. Reflektieren und diskutieren Sie gemeinsam, inwiefern es sich bei diesem um eine Affekttat handelt und wie diese mit Evchens Melancholie in Verbindung steht.